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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Polze war in der Woche zuvor schon geprüft worden, hatte ihre Sache ordentlich gemacht und sich vermutlich als Einzige in der Klasse in Sicherheit gewähnt. Ihr Protest bestand in einem einzigen kurzen Klagelaut, bevor sie wie ein Lamm zur Schlachtbank schlich.
    Ich spürte, wie das Blut wieder durch meinen Körper zu fließen begann und sich ein fast triumphierendes Lebensgefühl bei mir einstellen wollte. Wieder eine Biostunde überlebt! Jeden Dienstag verdichtete sich mein Daseinskampf auf diese fünf Minuten Panik zwischen halb und fünf nach halb zehn, in denen mir meine anderen Probleme beinahe nichtig erschienen. Die Entspannung danach war so stark, dass ich vom Unterricht selbst fast nichts mehr mitbekam. Meine Gedanken begannen bereits abzudriften …
    Ein scharfer Seitenstoß von Meggi holt mich jäh in die Gegenwart zurück: »Lilly, penn doch nicht! Du bist dran !«
    Ich starre, hilflos verblüfft, nach vorne. Jutta Polze sitzt längst wieder an ihrem Platz, und an die gerade noch blank geputzte Tafel hat jemand ein erstaunliches Gebilde gekritzelt. »Die Staubblätter ! Die Staubblätter !«, flüstert Meggi jetzt beschwörend.
    Selbst aus der Distanz kann ich erkennen, wie Frau Gründels Augen sich zu schmalen Schlitzen verengen. Sie beginnt zu lächeln und die Kreide in der Hand zu wiegen wie einen Wurfspieß. »Komm doch mal nach vorne, Lilly«, sagt sie. »Zeichne uns doch bitte mal die Staubblätter ein.«
    Ich stolpere die Treppenstufen hinab nach vorn. Frau Gründel hält mir die Kreide hin. »Die Staubblätter«, wiederholt sie fast freundlich. Wahrscheinlich ahnt sie bereits, dass ich das Wort Staubblatt eben zum ersten Mal gehört habe.
    Meine kleinen grauen Zellen fahren alle Notreserven auf, während ich mich der Tafel nähere. Staub. Schutz. Außenwelt. Aha. Das an der Tafel muss eine Blüte sein, und das Staubblatt ist sicher nichts anderes als ein Blatt, das die Blüte vor Staub schützt! Verhaltenes Kichern perlt hier und da auf, als ich eine kleine Decke aus zarten Kreidestrichen um Frau Gründels Blüte hülle. Frau Gründel lässt mich zeichnen, ein Lächeln der Vorfreude umspielt ihre Lippen.
    Und erstirbt. Ein Klopfen an der Tür, eine ältere Schülerin im Eingang, ein Blick, eine Ahnung. »Ist Lilly Engelhart hier in der Klasse? Sie soll zur Direktorin kommen …«
    Ich zerspringe, zersplittere in tausend Stücke. Die Hand, die mir eben noch gehört hat, legt die Kreide sorgfältig auf die Tafelschiene. Meine ehemaligen Füße bewegen sich auf die Tür zu, in der die fremde Schülerin vor mir zurückweicht. Ich höre trotzdem, dass Frau Gründel ein reflexartiger Rest von Bosheit entschlüpft, vor dem sie selbst erschrickt: »Da bist du ja noch mal davongekommen …«
    Ich, Lilly Engelhart, dreizehn Jahre alt, höre am Dienstag, dem 22. November 1988 um 9.55 Uhr auf zu existieren.

3
    Über Nacht hatte es geschneit, es schneite immer noch in dicken Flocken, und wie ein frisches, unbeschriebenes weißes Blatt breitete sich der Park vor mir aus. Ich konnte die neuen Flocken auf den Schnee fallen hören, was beunruhigend war, denn ansonsten hörte ich nichts: keine Autos auf der Straße, keine anderen Menschen, keinen Vogel im Baum. Es war absolut still, nur die Schneeflocken surrten und lärmten wie ein frecher winterlicher Bienenschwarm. Die Schneedecke schien meine Füße festhalten zu wollen, sodass ich sie kaum bewegen konnte, und mit meinen Händen stimmte ebenfalls etwas nicht, denn als ich mich bückte und meine flache Hand auf den flockigen Neuschnee legte, spürte ich nichts. Keine Kälte, keine Nässe, nicht das wollfeine Gefühl frisch gefallenen Schnees. Ich blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken, wartete auf das harte Prickeln der Schneeflocken auf meinem Gesicht – nichts.
    Ich bin tot!, dachte ich verblüfft. Nicht Mami, sondern ich! Ja, so muss es sein … ich habe an der Tafel einen Herzschlag bekommen.
    Aber als ich mich wieder umdrehte, sah ich meine Fußspuren im Schnee. Vom Hintereingang des Krankenhauses führten sie an Bänken und Gartenteich vorbei hinunter zum Wäldchen. Hier unten streckten die Tannen dem Schnee ihre Arme entgegen, dass er sie rein wasche vom fast vergangenen Jahr, hier unten flüsterten die Knospen der Laubbäume bereits vom kommenden Frühjahr, hier unten hatte jeder Baum seinen eigenen Wintertraum. Es war ungeheuerlich, nicht zu glauben, nicht zu verzeihen, dass die Welt mit Mamis Tod nicht stehen geblieben war,

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