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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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stattdessen. »Sitzen allein an der Bar, schwenken Ihr Glas, schauen nicht einmal auf. Dabei sind wir ein ganz netter Haufen, wenn man uns erst einmal kennt, Lilly … darf ich Lilly sagen? Sie sind nicht zum ersten Mal in den alten Bundesländern, oder?«
    »Ich bin hier aufgewachsen. In Hamburg.«
    Verblüfft sieht er mich an.
    »Ich bin nur ein halber Ossi«, erkläre ich. »Zur Hälfte durch meine Mutter. Zur Hälfte auch, oder wenigstens beinahe, wenn man die Lebensjahre zählt, die ich in Hamburg und in Jena verbracht habe. Aber in Jena in der Schule war ich der Wessi, bis zum Schluss.« Ich trinke den letzten Schluck aus meinem Glas und stehe auf. »Ich glaube, ich gehe jetzt lieber. Entschuldigung, aber mir ist nicht nach Party zu Mute.«
    »Warten Sie doch. Habe ich Sie gekränkt? Glauben Sie mir, dieses Gerede von Ost und West – mehr als zehn Jahre nach der Einheit! – geht mir selbst auf die Nerven, aber wenn’s drauf ankommt, fällt einem doch nichts Besseres ein.« Der Arme sieht mit einem Mal ganz bestürzt aus. »Es ist erst halb elf …!«, fügt er beschwörend hinzu.
    Mein kurzes Zögern ermutigt ihn, mir den Barhocker zurechtzurücken, unter meinen Arm zu greifen und mir andeutungsweise wieder hinaufzuhelfen, als ob ich es alleine nicht geschafft hätte. Ich komme mir vor wie in der Tanzstunde.
    »Erzählen Sie doch mal. Wenn Sie in Hamburg aufgewachsen sind, aber die Hälfte Ihres Lebens in Jena verbracht haben, dann war das … dann muss das auf jeden Fall noch vor der Wende gewesen sein. Dann sind Ihre Eltern mit Ihnen in die DDR gegangen! Das ist ja allerhand. Entschuldigen Sie, aber wie erlebt man so etwas, als junges Mädchen? War das denn nicht … höchst ungewöhnlich?«
    »Nicht für mich. Meine Eltern waren tot, ich wollte meine Verwandten wiederfinden. Aber Sie haben Recht, ganz einfach war es nicht.«
    »Sie sind allein gegangen?«
    »Ja … nein. Das ist eine lange Geschichte, Herr Dr. Hillmer.«
    »Nennen Sie mich Gregor. Und bitte erzählen Sie mir die Geschichte.«
    »Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte.«
    »Irgendwo. Bei Ihren Eltern. Bitte. Es ist erst halb elf.«
    Warum nicht, denke ich. Erzählen soll helfen gegen Heimweh. Und so schließe ich einen kurzen Moment die Augen – und das reicht, schon sind die Bilder wieder da.
    Es ist September und der Apfelbaum auf der Wiese vor dem Krankenhaus trägt schwere Last. Ich hole mir aus der Küche eine Trittleiter, hänge mich an einen Ast und schüttle und es prasselt geradezu um mich herum von dicken, rotgrünen Äpfeln. Ich weiß nicht, warum vor mir noch keiner auf den Gedanken gekommen ist – wo der Apfelbaum doch froh sein muss, ein paar Äpfel abzugeben! Ganz leicht steht er anschließend da, und ich schleppe eimerweise Äpfel auf die Station. Später bin ich sehr froh, dass ich das getan habe, denn es ist der letzte Tag, an dem Mami etwas essen kann, und der fruchtig süße Apfel wird der letzte Geschmack sein, an den sie sich erinnert.
    Es ist Oktober und Mamis Bett steht so, dass sie den Wolkenhimmel sehen kann. In diesem Jahr wird es früh Winter. Nasses Laub schimmert auf der Wiese; ich mache das Fenster auf, damit Mami hört, wie der Regen darauf fällt. Wie viele stille kleine Geräusche man hören kann, wenn man aufhört zu sprechen. Ich liege in Mamis Armen, ganz vorsichtig wegen der Infusionsschläuche und weil ihre Arme so dünn geworden sind, dass ich fürchte, sie zu zerbrechen. Noch heute kann ich ihre hauchzarte Gestalt in meinem Rücken spüren. Wir liegen da und schauen aus dem Fenster, und ich glaube, ich habe damals alle Wolken gesehen, die ich in meinem Leben sehen muss.
    Ich glaube damals auch, dass ich alle Geschichten gehört habe. Ich bin überzeugt, dass es nichts gibt, was ich nicht über sie weiß nach den dreizehn Jahren, in denen wir zusammengelebt haben – mehr wie Geschwister als wie Mutter und Tochter, denn Mami war noch jung, als sie mich bekam, und hat anders mit mir geredet, als meine Freundinnen es von ihren Müttern erzählten. Ich weiß noch, dass ein Mädchen nicht mehr mit mir spielen durfte, weil ich mit acht Jahren schon berichten konnte, was Mann und Frau im Schlafzimmer veranstalten, wie die Kinder zur Welt kommen und auch, was eine Fehlgeburt ist. Ich sehe Mami im Badezimmer schreien und weinen und in die Handtücher bluten, und ich wähle mit zitternden Fingern die 112 und rufe mit ganz hoher Stimme nach einem Krankenwagen …
    Achtzehn Jahre wäre

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