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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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mein kleiner Bruder heute alt, acht Jahre jünger als ich, genauso weit auseinander wie Mami und ihre Schwester Lena, die sie nie wiedergesehen hat nach jener Nacht, in der sie mit meinem Vater über eine Grenze flüchtete, von der es kein Zurück geben würde.
    Es ist November und Pascal macht seinen letzten Besuch. Hinterher essen wir eine Pizza zusammen und wissen nichts mehr miteinander anzufangen. Es ist, als seien Mami und ich schon in die andere Welt hinübergegangen. Pascal weiß, dass er uns im Stich gelassen hat, sie und mich, aber er weiß nicht, dass ich ihm gar nicht böse bin. Denn zum Schluss sind Mami und ich wieder allein, wie in der alten Zeit, an die ich mich erinnern kann, und ich halte diese Zeit ganz fest und glaube, dass sie das Kostbarste ist, was ich in meinem Leben besitzen werde …

1
    Mein Vater war ein Held. Er hatte meine Mutter aus der DDR befreit und war auf einen Berg geklettert. Das eine hatte geklappt, das andere nicht. Nur ein Foto war mir von ihm geblieben. Er stand, meine Mutter im Arm, an eine Säule gelehnt – »Unter den Linden«, erzählte Mami verträumt –, und beide lachten. Sie waren neunzehn, frisch verliebt, hatten sich ein paar Monate zuvor in Budapest kennen gelernt und seitdem an jedem ersten Samstag im Monat um dieselbe Zeit am selben Ort in Ostberlin verabredet. Mein Vater war aus Hamburg, meine Mutter aus Jena. Nur in Ostberlin konnten sie sich treffen und immer nur für ein paar Stunden. Kurz bevor sich um Mitternacht die Mauer für Menschen aus dem Westen wieder schloss, brachte meine Mutter meinen Vater an den Grenzübergang, sie winkten einander noch einmal zu, und anschließend fuhren sie unglücklich und sehnsüchtig in unterschiedliche Richtungen des geteilten Landes nach Hause. Dass sie das nicht lange aushalten würden, war klar.
    Mein Vater hieß Jochen. Jochen Kupfer. Mich haben sie Lilly genannt, nach dem Lied »Lili Marleen«. Mamis Schwester heißt nämlich eigentlich Marlene und Mami wollte ein Zeichen setzen, dass wir zusammengehörten, trotz Mauer und allem. Die beiden schrieben sich, schickten Fotos und Päckchen hin und her, und wenn ich zu Weihnachten Stollen aus Thüringen aß, dachte ich daran, dass wir Familie im Osten hatten. Aber Lenas lange Briefe interessierten mich nicht – ich kannte ja niemanden, von dem sie berichtete – und die Fotos sagten mir auch nichts. Ich fand Lena nicht halb so schön wie Mami (welch ein Irrtum!), und mein Onkel Rolf erinnerte mich viel zu sehr an meinen Klassenlehrer Dr. Gotthold, als dass ich ihn unbekannterweise ins Herz hätte schließen können. Es gab noch einen Cousin, Till, der nur einige Jahre jünger war als ich, aber Jungs waren für mich – mit zehn, elf – sowieso das Letzte.
    Nur einmal stockte mir fast der Atem. Lena schickte ein Familienfoto, das sie in einem Studio hatte machen lassen. Ich erinnere mich an Mamis Gesicht, als sie es ansah. Sie sah aus, als hätte sie alles um sich herum vergessen. Und als ich ihr über die Schulter schaute, entdeckte ich, dass zwischen Tante Lena und Onkel Rolf und meinem Cousin Till ein Mädchen stand. Sie blickte mürrisch drein und wurde offenbar genauso ungern fotografiert wie ich.
    »Wer ist die denn?«, fragte ich erstaunt.
    »Das ist deine Cousine Katrin«, sagte Mami leise.
    Meine Cousine Katrin! Ich war sprachlos. Ich war fast zwölf Jahre alt, hatte schon tausend Geschichten von Mamis Familie in der DDR gehört, aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte kein Mensch es für nötig gehalten, mir zu sagen, dass ich eine Cousine hatte! Ich nahm Mami das Bild aus der Hand und sah es fassungslos an.
    »Sie ist zwei Jahre älter als du«, erklärte Mami.
    »Ist sie adoptiert oder so was? Ich meine, wo kommt sie denn auf einmal her?« Das war, wie ich heute weiß, so ziemlich das Schlimmste, was ich fragen konnte, aber ich hatte wirklich keine Ahnung. »Ich dachte, Lena hätte nur den Till?«
    Da war etwas in Mamis Augen, ich konnte nicht sagen, was es war, aber es hielt mich davon ab, weiter zu fragen. Meine Cousine Katrin beschäftigte mich noch einige Tage lang, dann gab es eine Nachricht, die alles andere in den Hintergrund drängte.
    Mami wurde wieder krank. Wir dachten schon, sie hätte es geschafft, weil über ein Jahr keine neuen Metastasen aufgetreten waren. Ich weiß noch, dass wir ganz ausgelassen waren in diesem Sommer: Mami, ihr Freund Pascal und ich. Pascal stellte alles Mögliche an, um uns zum Lachen zu bringen – und das, obwohl

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