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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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dass meine taub gewordenen Glieder das einzige Zeichen dafür waren, dass ihr Leben zu Ende gegangen war …
    Jetzt stand Schwester Judith im Eingang und winkte mir zu. Es war Zeit, Abschied zu nehmen.
    Auf Mamis Gesicht lag ein leicht überraschter Ausdruck, als ob sie als Letztes hatte sagen wollen: Das hatte ich mir aber anders vorgestellt! Der Tod hatte die Falten geglättet, die in den letzten Monaten um ihren Mund und unter den Wangenkochen entstanden waren, und unter dem hellen Licht der Leuchtstoffröhren warfen ihre Augenwimpern einen bläulichen Schatten wie eine Decke über ihr schlafendes Gesicht. Es hatte keinen Todeskampf gegeben, nur Schlaf, Frieden, Erlösung, und dies so rasch und still, dass keine Zeit gewesen war, mich noch rechtzeitig zu benachrichtigen.
    »Mach dir darüber keine Sorgen«, sagte Schwester Judith leise. »Du warst doch immer bei ihr, als Einzige. Es ging so schnell … ich glaube, sie hat gar nicht mehr gemerkt, dass du diesmal gar nicht da warst.«
    »Aber irgendjemand war da«, flüsterte ich und sah in Mamis Gesicht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Mami noch einmal so schön aussehen würde. »Jemand hat sie erwartet …«
    Schwester Judith kamen die Tränen. Ich konnte nicht weinen. Ich hoffte, dass Mami mir noch ein Zeichen gab, dass irgendein Gedanke, ein Bild zu mir hinüberflog, aber nichts geschah. Nur jene unerklärliche Ahnung hatte sie mir hinterlassen, die Ahnung von einem großen Geheimnis.
    Frau Gubler stand auf, als Schwester Judith und ich durch den Flur auf sie zukamen. Sie verlor wirklich keine Zeit, ihre Ansprüche auf mich anzumelden. Sie war es auch gewesen, die im Büro der Direktorin auf mich gewartet hatte, aber im Krankenhaus hatte ich sie einfach stehen gelassen. Schwester Judith und ich hatten allein Mamis Sachen zusammengepackt und den Zuckerhut vom Fenster gewischt. »Lilly, was … was wird denn jetzt mit dir?«, fragte Schwester Judith beklommen.
    Ich machte eine Kopfbewegung zu Frau Gubler hin. »Sie wird’s mir schon sagen.«
    Dann gingen wir rasch über den Parkplatz auf Frau Gublers Auto zu. »Da du weiter im Internat bleiben wirst, wird sich rein äußerlich für dich ja gar nicht so viel ändern«, behauptete sie.
    Ich hätte ihr viele Dinge darauf antworten können, aber stattdessen fragte ich nur: »Was machen wir denn mit der Wohnung?«
    »Wir gehen zusammen eure Sachen durch«, sagte Frau Gubler. »Was du behalten willst, lagern wir ein. Der Rest kommt in eine … Wohnungsauflösung, nennt man das.«
    »Aber vielleicht möchte Pascal die Wohnung behalten! Können wir mit der Kündigung noch warten, bis er zurück ist?« Ich blieb stehen. »Dann könnte ich am Wochenende nach Hause fahren …«
    »Ich glaube nicht, Lilly«, sagte Frau Gubler. »Deine Mutter und Herr Plotin waren nicht verheiratet …«
    »Na und?«
    »Außerdem ist er so gut wie nie zu Hause«, fuhr sie ungerührt fort. »Sei vernünftig, Lilly. Das Jugendamt würde das nie erlauben.«
    »Das Jugendamt tut, was Sie ihm vorschlagen!«, schoss ich sofort zurück.
    Frau Gubler wechselte geschickt das Thema. »Habt ihr ihn eigentlich erreicht?«
    »Pascal? Nein.« Ich setzte mich mürrisch und unwillig wieder in Bewegung. »Der ist irgendwo in der Südsee und fotografiert Sommermode. Schwester Judith hat eine Nachricht bei seiner Agentur hinterlassen.«
    »Was ist mit der Schwester deiner Mutter?«
    »Ach, die ist doch in der DDR. Die kommt da nicht raus.«
    »Zu familiären Anlässen geht das manchmal …«
    »Es hat noch nie geklappt«, sagte ich unwirsch. »Sie haben sich nicht wiedergesehen, seit Mami abgehauen ist. Was hat das jetzt noch für einen Zweck?«
    Frau Gubler schloss die Beifahrertür ihres Golfs auf und blieb daneben stehen, bis ich mich gesetzt hatte. »Weitere Familie hast du nicht«, sagte sie. »Ich finde, du solltest sie anrufen.«
    »Geht doch gar nicht. Da drüben hat nicht jeder Telefon. Wussten Sie das nicht?«
    »Kein Telefon?«, staunte Frau Gubler. Das hatte sie wohl wirklich nicht gewusst. Sie stieg ins Auto.
    »Lena kriegt ein Telegramm, alle anderen eine Anzeige. Hier, ich habe schon den Text.« Ich zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Innenseite meines Mantels. Das Blatt war zerknickt und hatte Schmutzränder, weil ich es schon eine Weile mit mir herumtrug. Mami hatte es mir einmal wortlos gegeben, ich hatte es zu Hause gelesen, aber nie wieder erwähnt. Doch das brauchte Frau Gubler nicht zu wissen. »Mami hat ihn

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