Lillys Weg
nur zu viert sein, der Freund, den wir noch eingeladen haben, ist noch nicht da. Er steckt im Stau.â Ein Mann für mich oder für sie?
Paolo tauchte in der Haustüre auf und beobachtete mit regungslosem Gesicht die Szene. Er trug eine weiche, braune Wildlederjacke, Jeans und Mokassins und sah in dieser Umgebung völlig anders aus. Wie ein Baron auf seinem Landgut, der gleich zur Jagd aufbrechen würde. Es gab nichts mehr, nur neutrale Freundlichkeit in seinem Blick, den sie so gut zu kennen geglaubt hatte. Das geile Raubtier war verschwunden. Hier stand ein älterer, zufriedener, seiner selbst sicherer Mann, der seinen Besitz genoss.
Als er näher kam und dabei seiner Frau zärtlich über den Arm strich, hätte Lilly am liebsten auf dem Absatz umgedreht und wäre geflüchtet. Kristina nahm ihr die kleine Reisetasche ab und sagte: âKommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.â Lilly hatte gehofft, dass Paolo sie begleiten würde. Sie wollte ihn berühren, ihn wenigstens für eine Sekunde spüren und ihn fragen, was von ihr erwartet wurde.
Lilly zog sich nicht um. Sie war in einer Jeans und einem lockeren weiÃen Pulli angereist. Ihr ursprünglicher Plan, eine hautenge, cremefarbene Hose und einen tief ausgeschnittenen, roten Pulli anzuziehen, der ihre Brüste betonte, erschien ihr plötzlich peinlich und frivol. Sie wusch sich die Hände im kleinen Waschbecken in ihrem Zimmer und sagte zu ihrem Spiegelbild: âMein Gott, was machst du hier!?â
Als sie nach unten kam, hatte sie sich noch immer nicht gefasst. Wo war dieser verdammte zweite Mann? Sie fühlte sich mit dem Paar, das sich in der Küche als eingespieltes Team bewegte, unwohl.
Paolo war der Koch. Er stand mit einer weiÃen Schürze am Herd und rührte hingebungsvoll in einem Topf, aus dem es köstlich nach Lammragout duftete. Seine Frau hackte Petersilie, und neben ihr lagen frisches Gemüse und Kartoffeln, die geschält werden mussten. Als Lilly ihre Hilfe anbot, lehnte Kristina lächelnd ab: âWir machen das schon. Ich bin seine Hilfskraft, und er kocht.â
Lilly hatte sich nie gewünscht, dass Paolo und sie mehr miteinÂander teilen sollten als ihre gemeinsame Obsession. Aber jetzt, als sie die beiden miteinander sah, der Inbegriff des glücklichen Paares, spürte sie einen Stich im Herzen. Es war nicht Eifersucht, es war das schmerzhafte Gefühl, ausgeschlossen zu sein, nicht dazuzugehören. Lilly fühlte sich plötzlich in ihre Kindheit zurückversetzt. In Wien nicht zu Hause und im Bregenzerwald nicht zu Hause. Fremd. Ãberall fremd.
Sie spürte, dass ihr Selbstbewusstsein immer mehr bröckelte und die kleine, einsame Lilly gleich auftauchen und zu weinen beginnen würde. âIch mache noch einen Spaziergang, wenn ich hier nicht gebraucht werde.â Im Wald, der nur hundert Meter hinter dem Haus begann, ruinierte sich Lilly ihre feinen Ballerinas und heulte sich in den Armen einer groÃen Tanne so richtig aus. Die Natur war immer ihre Rettung gewesen. Das hatte sie von ihrer Mutter gelernt: âWenn du traurig bist, leg dich auf eine Wiese oder umarme einen Baum. Die Naturwesen sind immer da, um dich zu trösten.â
Lillys Mutter hatte sich aus Liebe von einer Waldfee in eine Stadtfrau verwandelt und war daran fast zugrunde gegangen. Als sie mit ihrer kleinen Tochter aus Wien zurück nach Mellau geflüchtet war, hatte sie an so schweren Depressionen gelitten, dass ihr Arzt sie in eine Klinik einweisen wollte.
Sie saÃen schon bei einem köstlichen, viergängigen AbendÂessen, als der vierte Gast schlieÃlich kam. Lilly atmete auf. Endlich Entlastung!
Er war jung und sehr attraktiv. Sekretär eines Ministers
und offenbar auch von geschäftlichem Interesse für Paolo, der sich als liebenswürdiger, gesprächiger Gastgeber entpuppte. Er schenkte Lilly und Walter immer wieder von einem schweren, alten Burgunder nach und langsam löste sich ihre Nervosität. Sie wusste noch immer nicht, was das Ziel dieser Einladung war und ob es heimliche Erwartungen an sie gab. Ein Vierer? Sie beobachtete Walter von der Seite. Ihr war klar, dass dieser Mann für sie auf keinen Fall infrage kam. Er hatte ein kantiges, hartes Gesicht, und sie sah, wie sich seine Kiefermuskeln in unterdrückter Spannung bewegten. Lilly hatte noch nie an Gruppensex teilgenommen, obwohl es gerade modern war. Sie sah keinen Bedarf,
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