Lily und der Major
ein. Er hob Lily auf die Arme und trug sie in den Waggon, wo er sie
recht unsanft auf eine Bank fallen ließ. Lily war zu erschrocken, um zu weinen,
zu betroffen über diese brutale Trennung von ihrer Schwester, um etwas zu
sagen. Aber dann zahlte sie es dem Zugführer doch heim.
Sie beugte sich über den Gang und
übergab sich.
Der Zugführer fluchte wütend, die
Jungen lachten, aber Lily wandte nur den Kopf und starrte trotzig aus dem
Fenster.
Als der Zug aus dem kleinen Bahnhof
in die schneebedeckte Ebene hinausratterte, sah Lily Emma winken. Neben ihr
stand eine elegante Dame in einem grünen Kleid und mit federbesetztem Hut. Die
andere Frau, die nicht wollte, daß man ihr ein blaues Auge schlug, war nirgendwo
zu sehen.
Lily aß an diesem Tag kein
Frühstück, und sie verzichtete auch auf das karge Mittagsmahl aus
verschrumpelten Äpfeln, Apfelsaft und Brot.
Am späten Nachmittag, als neue
Schneestürme über das Land jagten, kam der Zug mit einem schrillen Pfiff erneut
zum Halten. Lily hätte sich nicht von ihrem Platz gerührt, wenn der Zugführer
sie nicht beim Kragen gepackt und mit den anderen auf die Plattform
hinausgeschubst hätte.
Ein untersetzter Mann in einem
schwarzen Rock zeigte mit dem Finger auf Lily, während er mit der Frau an
seiner Seite sprach. Ein junger Mann stand bei ihnen, aber auf ihn achtete Lily
kaum, denn sie hatte nur Augen für das kleine Mädchen.
Mit den dicken blonden
Schillerlocken, den rosigen Wangen und dem wunderschönen Mantel aus hellblauem
Samt sah es aus wie eine Erscheinung aus dem Märchenbuch. Nun hob das schöne
Kind die Hand, lächelte und deutete auf Lily.
»Ich will die da«, sagte das kleine
Mädchen laut und deutlich zu seinem Vater.
Lily trat einen Schritt auf das
andere Kind zu. Ihr war egal, wer sie haben wollte und was man mit ihr machte,
solange sie nicht mehr in diesen schrecklichen Zug zurückkehren mußte.
Das kleine Mädchen kam und blieb vor
Lily stehen. Sie hatten in etwa die gleiche Größe, und beide waren blond, aber
da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Lily war mager, ihr helles Haar
zerzaust und verfilzt, während das andere Kind eher rundlich war und sehr
gepflegt.
»Ich bin Isadora«, stellte es sich
lächelnd vor. »Papa sagt, ich könnte dich als Spielgefährtin haben, wenn ich
will.«
Lily verlagerte ihr Gewicht von
einem Fuß auf den anderen; sie wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte.
Jetzt, nachdem Emma und Caroline fort waren, vielleicht für immer, war es nicht
mehr so wichtig, wer sie mitnahm. Sie konnte nur versuchen, das Beste aus der
Situation zu machen.
Isadora runzelte die Stirn, ihre
kornblumenblauen Augen unter den langen, dichten Wimpern wurden schmal. »Du kannst doch sprechen, oder? Ich will eine Freundin, die sprechen kann!«
»Ich bin Lily«, kam die schüchterne,
aber entschiedene Antwort. »Ich bin sechs, und ich kann so gut sprechen wie du
auch.«
Isadora nahm Lilys Hand und führte
sie auf ihre schmunzelnden Eltern und den jungen Mann zu, der vermutlich ihr
Bruder war. Er schien die Begeisterung seiner Familie jedoch nicht zu teilen.
Er war ein stämmiger Junge mit lockigem braunem Haar, und obwohl er die
Vorgänge eindeutig zu mißbilligen schien, lag ein freundlicher Ausdruck in
seinen blauen Augen.
»Das ist das Mädchen, das ich will«,
verkündete Isadora. »Ich werde sie Aurora nennen – nein, das ist zu hübsch.«
Sie drehte sich um und musterte Lily prüfend. »Ich weiß. Du wirst Alva sein.
Alva Sommers.«
Lily wurde zu einer wartenden
Kutsche geführt und von Isadoras Bruder hineingehoben, der ihr zuzwinkerte und
sie anlächelte.
Von diesem Tag an wurde Lily von
allen in der Familie Alva genannt, ausgenommen vom jungen Rupert. Er allein
nannte sie bei ihrem richtigen Namen, und als Lily ihm von Caroline und Emma
erzählte, schrieb er alles auf, damit sie es nie vergessen sollte.
1
Tylerville, Washington Territory
10. April 1878
Aus dem Blue Chicken Saloon drang das blecherne
Klimpern des Pianos auf die Straße; durch die offenstehenden Türen zogen
Schwaden billigen Zigarrenrauchs nach draußen. Lily Chalmers schaute schnell
noch einmal auf die Taschenuhr, die sie auf ihrem blauen Baumwollkleid trug,
und nickte. Sie hatte Zeit genug, bis sie wieder an ihre Arbeit zurückkehren
mußte.
Während sie mit einer Hand ihre
Röcke raffte, suchte sie sich vorsichtig einen Weg durch den Schmutz und die
Pferdeäpfel, die auf der Straße lagen. Ein kleines Lächeln spielte um ihre
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