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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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politischen Kampf?«
    »Absolut«, antwortet er, »sie ist übrigens im Gefängnis. Sie gehörte zu den Neununddreißig im großen Prozess von 2005; dem, der von Politkowskaja dokumentiert wurde.«
    Er sagt das mit einem breiten Lächeln und voller Stolz – und was ihn angehe, die Tatsache, dass er nicht auch im Gefängnis sitze, sei nicht seine Schuld: » mne ne poweslo «, bei mir hat’s nicht geklappt. Vielleicht ein anderes Mal, noch ist nicht aller Tage Abend.
    Wir fahren zusammen zum Gericht des Stadtteils Taganka, wo an diesem Tag gerade einige Nazboly ihr Urteil erwarten. Der Saal ist winzig, die Angeklagten tragen Handschellen und stehen in einem Käfig, und auf den drei Bänken, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, sitzen Freunde von ihnen, allesamt Parteigänger. Hinter den Gittern sind sie zu siebt: sechs junge Männer von sehr unterschiedlicher Erscheinung, die vom bärtigen, muslimischen Studenten bis zum working class hero im Trainingsanzug reicht, und eine etwas ältere, blasse, recht hübsche Frau mit zerzausten Haaren vom Typ linksextreme Geschichtslehrerin, die ihre Zigaretten selbst dreht. Die Anklage lautet auf Vandalismus, das heißt Schlägerei mit der Putin-Jugend. Auf beiden Seiten hat es Leichtverletzte gegeben. Dazu befragt, sagen sie aus, dass die anderen, die angefangen hätten, nicht verfolgt würden, dass der Prozess rein politischer Natur sei und dass sie, wenn sie für ihre Überzeugungen bezahlen sollten, dafür bezahlen würden. Die Verteidigung macht geltend, dass die Beschuldigten keine Hooligans seien, sondern ernsthafte Studenten mit guten Noten, dass sie schon ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hätten und das doch reichen müsse. Das Argument überzeugt den Richter nicht. Urteilsspruch für alle: zwei Jahre. Die Gendarmen führen sie ab, die sieben gehen lachend hinaus, zeigen die Faust und rufen: » da smert! «, bis zum Tod. Ihre Kumpels blicken ihnen voller Neid hinterher: Sie sind Helden.
    Es gibt Tausende, vielleicht Zehntausende wie sie, die gegen den Zynismus revoltieren, der in Russland zur Religion geworden ist, und die Limonow einen wahren Kult widmen. Dieser Mann, der ihr Vater sein könnte oder für die Jüngsten sogar ihr Großvater, hat das Leben eines Abenteurers geführt, von dem jeder mit zwanzig Jahren träumt; er ist eine lebende Legende, und das Herzstück dieser Legende, der Grund für sie alle, es ihm gleichzutun, ist sein cooler Heroismus, den er während seiner Inhaftierung bewies. Er war in Lefortowo, dem Bollwerk des KGB , das in der russischen Mythologie mindestens so schwer wiegt wie Alcatraz, er war im Arbeitslager und gehörte dort zu denen mit den strengsten Auflagen, und er hat sich niemals beklagt oder klein beigegeben. Er fand Mittel und Wege, um unter diesen Bedingungen nicht nur sieben oder acht Bücher zu schreiben, sondern auch seinen Haftbrüdern so wirksam zu helfen, dass diese ihn schließlich als Supergangster und gleichzeitig als eine Art Heiligen betrachteten. Am Tag seiner Haftentlassung stritten sich Gefangene und Wächter darum, ihm den Koffer tragen zu dürfen.
    Als ich Limonow selbst frage, wie es im Gefängnis gewesen sei, begnügt er sich zunächst mit der Antwort: » normalno «, was im Russischen soviel heißt wie »okay, kein Problem, nichts Besonderes«, erst später erzählt er mir folgende Begebenheit.
    Von Lefortowo aus wurde er ins Lager der Stadt Engels an der Wolga überführt. Dieses ist eine mustergültige, brandneue Anstalt und das Ergebnis der Anstrengungen ehrgeiziger Architekten, die man gern ausländischen Besuchern vorführt, auf dass sie löbliche Schlussfolgerungen zur Entwicklung der Haftbedingungen in Russland zögen. In Wirklichkeit nennen die Häftlinge von Engels ihr Lager »Eurogulag«, und Limonow versichert mir, dass die Raffinessen der Architektur es in keiner Weise erträglicher machen als die klassischen, von Stacheldrahtzäunen umgebenen Baracken – eher sogar grässlicher. Doch immerhin gleichen in diesem Lager die Waschbecken, die aus einer Platte gebürsteten Edelstahls gefertigt sind und in einer klaren, sachlichen Linie ein gusseisernes Rohr überragen, exakt denen in einem von Philippe Starck designten Hotel, in dem Limonow bei seinem letzten Aufenthalt in New York Ende der Achtzigerjahre von seinem amerikanischen Verleger untergebracht worden war.
    Das stimmte ihn nachdenklich. Nicht einer seiner Mitgefangenen war in der Lage, dieselbe Parallele zu ziehen. Ebensowenig

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