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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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wurden, aber nicht von ihren Feinden, sondern ihren eigenen Vorgesetzten, und vor allem von Rechtsverweigerung. Letzteres kehrte im Gespräch ständig wieder. Dass Polizei oder Armee korrupt sind, liegt in der Ordnung der Dinge. Dass ein menschliches Leben wenig wert ist, gehört zur russischen Tradition. Aber die Arroganz und Brutalität der Machtrepräsentanten, wenn einfache Bürger es wagten, sie um Rechenschaft zu bitten, und ihre absolute Gewissheit, straffrei zu bleiben, die ertrugen weder die Mütter der Soldaten noch die der Kinder, die in der Schule von Beslan im Kaukasus massakriert worden waren, noch die Angehörigen der Opfer aus dem Dubrowka-Theater.
    Erinnern Sie sich, es war im Oktober 2002. Drei Tage lang zeigten sämtliche Fernsehstationen der Welt nichts anderes als das: Tschetschenische Terroristen hatten während einer Vorstellung des Musicals Nord-Ost das gesamte Theaterpublikum als Geisel genommen. Die Spezialeinheiten, die jede Verhandlung verweigerten, lösten das Problem, indem sie die Geiselnehmer vergasten und dabei die Geiseln gleich mit – und zwar mit einer Entschlossenheit, zu der Präsident Putin sie ausdrücklich beglückwünschte. Die Zahl der zivilen Opfer ist umstritten, sie liegt bei etwa einhundertfünfzig, und ihre Angehörigen werden als Komplizen der Terroristen angesehen, wenn sie fragen, ob man dabei nicht anders hätte vorgehen können, oder wenn sie darum bitten, man möge sie und ihre Trauer mit etwas weniger Achtlosigkeit behandeln. Seither treffen sie sich jedes Jahr zu einer Gedenkfeier, welche die Polizei zwar nicht ganz zu verbieten wagt, dafür aber überwacht wie eine Versammlung von Aufständischen – wozu sie auch wirklich inzwischen geworden ist.
    Ich bin zu einer dieser Feiern hingegangen. Ich schätze, es waren zwei-, dreihundert Menschen auf dem Platz vor dem Theater und rings um sie herum noch einmal genauso viele Angehörige des OMON , des russischen Äquivalents zu unserer Bereitschaftspolizei CRS und wie diese mit Helmen, Schutzschilden und Schlagstöcken bewaffnet. Es begann zu regnen. Regenschirme öffneten sich über Kerzen, die mich mit ihren Papierkrausen zum Schutz der Finger vor dem heißen Wachs an die orthodoxen Feiern erinnerten, zu denen man mich früher als Kind zu Ostern mitnahm. Statt der Ikonen prangten Schilder mit den Fotos und Namen der Toten. Die Menschen, die diese Schilder und Kerzen trugen, waren Waisen, Witwen und Witwer oder Eltern, die ein Kind verloren hatten – wofür das Russische so wenig wie das Französische ein eigenes Wort besitzt. Nicht ein einziger staatlicher Repräsentant war gekommen, wie ein Vertreter der Familien mit kaltem Zorn unterstrich, der ein paar öffentliche Worte formulierte – die einzigen während der gesamten Veranstaltung. Keine Reden, keine Slogans, keine Gesänge. Man begnügte sich damit, schweigend mit der Kerze in der Hand dazustehen oder leise in kleinen Grüppchen zu sprechen, umzingelt von einer Mauer von OMON -Einheiten. Ich blickte mich um und erkannte einige Gesichter wieder: Außer den trauernden Familien waren die Großen und Kleinen dieser überschaubaren Welt von Oppositionellen gekommen, in der ich seit einer Woche unterwegs war, und hier und da nickten wir uns mit der angemessenen Trauer im Blick zu.
    Oberhalb der Stufen, vor den geschlossenen Pforten des Theaters, sah ich eine Gestalt, die mir entfernt bekannt vorkam, aber es gelang mir nicht, sie zu identifizieren. Es war ein Mann in schwarzem Mantel, der wie alle anderen eine Kerze in der Hand hielt und von mehreren Personen umringt war, mit denen er halblaut sprach. Wie er so in der Mitte eines Kreises oberhalb der Menge stand, abseits und doch die Blicke auf sich ziehend, machte er einen wichtigen Eindruck, und merkwürdigerweise dachte ich an den Chef einer Gang, der von seinen Bodyguards umgeben dem Begräbnis eines seiner Männer beiwohnt. Ich sah nur sein abgewandtes Profil; aus dem hochgeschlagenen Kragen seines Mantels stand ein kleiner Spitzbart heraus. Eine Frau neben mir hatte ihn auch entdeckt und sagte zu ihrer Nachbarin: »Eduard ist da, das ist gut.« Er wandte den Kopf in unsere Richtung, als habe er sie trotz der Entfernung gehört. Die Flamme seiner Kerze höhlte die Züge seines Gesichts aus.
    Ich erkannte Limonow.
    2
    Wie lange schon hatte ich nicht mehr an ihn gedacht? Ich hatte ihn Anfang der Achtzigerjahre kennengelernt, als er bekränzt vom Erfolg seines Skandalromans Fuck off, Amerika nach Paris

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