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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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und in der Sowjetunion stellt das eher die Regel als die Ausnahme dar: Deportationen, Exilierungen, Massenumsiedlungen – unaufhörlich werden die Leute herumgeschoben, und die Chancen stehen praktisch gleich null, dort, wo man geboren ist, auch zu leben und zu sterben.
    Raja Zybin kommt aus Gorki, dem ehemaligen Nischni-Nowgorod, wo ihr Vater Direktor eines Restaurants war. In der Sowjetunion ist man weder Inhaber noch Betreiber eines Restaurants, sondern Direktor. Ein Restaurant ist nichts, was man gründet oder aufkauft, sondern ein Posten, auf den man berufen wird, und es ist gar kein schlechter Posten; unglücklicherweise wurde Rajas Vater wegen Veruntreuung von Geldern abgesetzt und zum Disziplinarbataillon aufs Schlachtfeld von Leningrad abkommandiert, und dort ist er gerade gestorben. Er ist ein Schandfleck in der Familie, und ein Schandfleck in der Familie kann in diesen Zeiten in diesem Land ein ganzes Leben ruinieren. Dass Kinder nicht für die Vergehen ihrer Väter zu bezahlen haben, scheint uns eine der Grundlagen von Gerechtigkeit zu sein; in der sowjetischen Realität ist es nicht einmal ein Prinzip auf dem Papier oder etwas, auf das man sich wenigstens theoretisch berufen kann. Die Kinder von Trotzkisten, von Kulaken – wie man wohlhabende Bauern nennt – und von Privilegierten des alten Regimes sind zu einem Leben als Ausgestoßene verurteilt, ohne Zugang zur Universität, zu den Pionieren, der Roten Armee und der Partei, und sie haben keine andere Möglichkeit, dieser Ächtung zu entgehen, als ihre Eltern zu verleugnen und dann ein Höchstmaß an Diensteifer und Beflissenheit an den Tag zu legen; und da Diensteifer bedeutet, seinen Nächsten zu denunzieren, haben die Organe keine besseren Handlanger als Leute mit einer befleckten Biografie. Im Fall von Rajas Vater brachte dessen Tod auf dem Feld der Ehre die Dinge möglicherweise etwas ins Lot; die Zeit des Großen Terrors in den dreißiger Jahren hatten die Zybins wie die Sawenkos jedenfalls unbehindert überstanden. Zweifellos waren sie zu kleine Fische. Dieses Glück hält Raja allerdings nicht davon ab, sich für ihren unehrenhaften Vater zu schämen, so wie sie sich auch für die Tätowierung schämt, die sie sich hat machen lassen, als sie Schülerin in der technischen Schule war. Sie wird später versuchen, sie zu entfernen, indem sie sich das Handgelenk mit Salzsäure besprüht, denn sie leidet darunter, nicht mit kurzärmeligen Kleidern herumspazieren zu können und als Offiziersgattin auszusehen wie eine aus dem Pöbel.
    Rajas Schwangerschaft fällt fast auf den Tag genau mit der Belagerung Stalingrads zusammen. Eduard wird im schrecklichen Monat Mai 1942 zur Zeit der schmerzlichsten Niederlagen gezeugt und am 2. Februar 1943 geboren, zwanzig Tage, bevor die sechste Armee des Deutschen Reichs den Kampf einstellt und die Geschicke des Kriegs sich wenden. Immer wieder wird man ihm erzählen, dass er ein Kind des Sieges sei und in eine Welt von Sklaven geboren worden wäre, hätten nicht die Männer und Frauen seines Volks ihr Leben geopfert, um dem Feind jene Stadt abzutrotzen, die den Namen Stalins trug. Später spricht man anders über Stalin, man bezeichnet ihn als Tyrannen und verurteilt den Terror, den er verbreitete, doch für diejenigen aus Eduards Generation bleibt er der größte Anführer der sowjetischen Völker im tragischsten Moment ihrer Geschichte, der Sieger über die Nazis, der Mann, der, einem Plutarch ebenbürtig, des folgenden Zugs fähig war: Die Deutschen hatten seinen Sohn, den Leutnant Jakow Dschugaschwili, gefangen genommen, die Russen hatten ihrerseits vor Stalingrad den Feldmarschall Paulus gefasst, einen der wichtigsten Militärchefs des Deutschen Reichs. Als das deutsche Oberkommando Stalin einen Austausch anbot, antwortete dieser herablassend, er tausche keine Feldmarschälle gegen simple Leutnants. Jakow beging Selbstmord, indem er sich in den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun seines Lagers warf.
    Zwei Anekdoten tauchen auf, die von Eduards frühester Kindheit erzählen. Die rührende erste ist die Lieblingsgeschichte seines Vaters: Sie zeigt einen Säugling, der in Ermangelung einer Wiege in einer Granatenkiste liegt und anstelle eines Nuckels auf einem Heringsschwanz herumkaut und dabei lächelt wie im sieb ten Himmel. » Molodez! «, ruft Wenjamin aus, »Kleiner Prachtkerl! Der wird sich überall wohl fühlen!«
    Von Raja wird die zweite, weniger liebreizende Anekdote überliefert: Sie ist mit

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