Linda Lael Miller
sie hundert Jahre später
Picknicks abgehalten hatte. Die überdachte Brücke ragte in der Nähe auf, aber
die Holzwände waren neu, und der Geruch von Harz mischte sich mit dem von
Frühlingsgras und fruchtbarer Erde.
Bei einem
Klappern auf der Straße blickte sie hoch und starrte mit weit aufgerissenen
Augen auf eine große Postkutsche, die von acht Pferden über die Brücke gezogen
wurde. Der Fahrer tippte an die Hutkrempe, als das Gefährt auf der anderen
Seite wieder auftauchte, und Elisabeth winkte lachend. Es war, als würde sie eine
Rolle in einem Film spielen.
Und dann
riß plötzlich ein Windstoß den Hut von ihrem Kopf. Sie griff danach und
landete zusammen mit dem Hut im Fluß, heulte bei der Eiseskälte des Wasser auf
und krabbelte ans Ufer.
Jonathan
stand vor ihr.
»Was machen
Sie hier?« fauchte sie wütend. Ihre Zähne klapperten. »Verfolgen Sie mich?«
Er zuckte
lächelnd mit den Schultern. »Ich dachte, Sie wollten mit der Fünfuhrkutsche
fahren. Statt dessen scheinen Sie zum Schwimmen gegangen zu sein.«
Elisabeth
funkelte ihn zornig an und verschränkte die Arme vor ihren Brüsten. Wegen des
unerwarteten Bades waren ihre Brustspitzen deutlich unter dem Stoff sichtbar. »Das
ist nicht lustig.« Sie war den Tränen nahe. »Das ist das schönste Kleid, das
ich je hatte, und jetzt ist es ruiniert!«
Er zog sein
Jackett aus und legte es ihr um die Schultern. »Vermutlich, aber es gibt noch
andere Kleider.« »Nicht wie dieses«, klagte sie.
»Suchen Sie
noch einmal in den Truhen, und wenn Sie nichts finden, kaufe ich Ihnen ein
Kleid.«
Elisabeth
warf ihm einen Seitenblick zu, während sie zum Haus gingen. Niemand brauchte
ihr zu sagen, daß Landärzte im neunzehnten Jahrhundert nicht viel verdienten.
Die meisten seiner Patienten bezahlten wahrscheinlich mit Hühnern und
Gartenfrüchten.
»Hat dieses
Kleid Ihrer Frau gehört?«
Seine
Wangenmuskeln zuckten kurz, entspannten sich wieder. Er sah sie nicht an. »Ja«,
antwortete er schließlich.
»Stört es
Sie denn nicht, eine andere Frau in ihren Sachen zu sehen?«
Er schob
die Hände in die Taschen seiner schwarzen Hose. »Nein«, antwortete er.
Elisabeth
dachte an die beiden Gräber auf dem Friedhof von dem Pine River der Gegenwart,
und sie fragte sich, warum Jonathans Lebensgefährtin nicht im Familiengrab
beigesetzt war. »Ist Ihre Frau gestorben, Jonathan?«
Seine Hände
waren in den Hosentaschen zu Fäusten geballt. »Soweit es Trista und mich
betrifft, ja.« »Sie hat Sie verlassen?«
»Ja.«
»Dann sind
Sie ein verheirateter Mann.«
Er winkte
ab. »Als klar wurde, daß Barbara nicht zurückkommen wollte, fuhr ich nach
Olympia, habe die Scheidung eingereicht und sie durchgesetzt.«
»Das muß
alles für Trista sehr schwer gewesen sein«, bemerkte Elisabeth.
Das Haus
war in Sichtweite. Zwielicht senkte sich über den duftenden Obstgarten, während
sie auf das schimmernde Licht einer Laterne in der Küche zugingen. Elisabeth
wußte, daß sie ihr Leben lang Heimweh nach dieser Zeit, diesem Ort, diesem Mann
an ihrer Seite haben würde.
»Meine
Tochter glaubt, ihre Mutter wäre bei einem Unfall in
Boston gestorben, während sie ihre Eltern besuchte, und ich möchte nicht, daß
ihr jemand etwas anderes erzählt. Da die Familie Evers ihre Tochter enterbt
hat, besteht keine Gefahr, daß diese Leute das Geheimnis verraten werden.«
Elisabeth
blieb stehen und starrte ihn an. »Aber das ist eine Lüge!« stieß sie hervor. Es
war kalt, und das nasse Kleid klebte an ihrer Haut.
»Manchmal
ist eine Lüge freundlicher als die Wahrheit.« Damit ging er in die Küche, und
Elisabeth mußte ihm folgen.
Drinnen
drehte Jonathan die Dochte in den Lampen höher und schob Holz in den Herd.
Elisabeth kauerte sich dankbar in die Nähe der Wärme.
»Eine Lüge
ist nie besser als die Wahrheit«, widersprach sie.
Er zog
einen blau emaillierten Topf vom Herd und füllte ihn an der Spüle unter der
Handpumpe mit Wasser. Dann setzte er den Topf auf den Herd. »Sie werden Tee
wollen«, bemerkte er und ignorierte völlig ihre Erklärung. »Ich suche Ihnen
einen Hausmantel.«
Elisabeth
rückte näher an den Herd und wollte die Hitze bis ins Mark ihrer Knochen
aufsaugen. Sie hatte zu zittern aufgehört, als Jonathan mit einem langen
Flanellnachthemd und einem Hausmantel aus schwerem blauen Cordstoff zurückkam.
»Sie können
sich in der Speisekammer umziehen«, sagte er.
Sie nahm
die Sachen in den kleinen Raum mit, in dem in ihrer Zeit Waschmaschine
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