Linda Lael Miller
sank Elisabeth auf die Stufen und preßte zitternd die
Hände vor ihr Gesicht. Großer Gott, wieso hatte sie es nicht gleich erraten?
Warum hatte sie nicht gewußt, daß sie die Frau war, die angeklagt wurde, das
Feuer gelegt zu haben, das wahrscheinlich Jonathan und Trista tötete?
»Elisabeth?«
Tristas Stimme klang dünn und besorgt. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
Elisabeth
holte tief Luft. »Nein, Süße, alles bestens.«
Das Kind
stand hinter ihr an der Tür. »Spielst du für mich? Ich bin zwar noch immer in Strafe,
aber Papa hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich für ein Lied hier unten
bleibe.«
Elisabeth
erhob sich von den Stufen. Sie fror sogar in dem warmen Hausmantel und dem
Nachthemd. Was für ein Skandal wird meine Bekleidung im viktorianischen Pine
River auslösen, dachte sie in einem verzweifelten Versuch, sich abzulenken.
Doch sie konnte es nicht vergessen – wenn sie nicht die Geschichte veränderte,
mußten zwei Menschen, die ihr bereits am Herzen lagen, tragisch sterben, und
ihr würde man die Schuld an ihrem Tod geben.
»Ein Lied«,
antwortete sie traurig, ergriff Tristas Hand und hielt sie fest.
»Elisabeth
hat einen Boogie gespielt«, erzählte Trista ihrem Vater am nächsten Morgen,
während sie den Haferbrei aß, den Ellen für sie gemacht hatte. Jonathan zog
die Brauen zusammen, und die Haushälterin verkrampfte sich leicht vor
Mißbilligung. Ihre Schultern strafften sich unter dem Kattunkleid.
»Einen was?«
Sein Kopf schmerzte, und er wußte, daß Ellen seine Geschichte nicht geglaubt
hatte, die Schwester seiner verstorbenen Frau wäre plötzlich zu Besuch
gekommen.
»Einen
Boogie-Woogie.« An Tristas strahlendem Gesicht war zu erkennen, daß ihr allein
schon das Wort Spaß machte.
Dann kam
Elisabeth etwas schüchtern die Treppe herunter, und Jonathans Herz übersprang
zwei Schläge.
Sie hatte
ihr Haar hinten hochgesteckt, aber um ihr Gesicht herum fiel es noch immer in
weichen Locken. Und sie trug ein blau und weiß geblümtes Kleid, an das er sich
von Barbara nicht erinnern konnte.
Sie
lächelte, als sie an den Küchentisch trat. »Guten Morgen.«
Jonathan
erinnerte sich an seine Manieren und erhob sich, bis Elisabeth Platz genommen
hatte. »Ellen«, sagte er. »Das
ist meine ... Schwägerin, Miss Elisabeth McCartney. Elisabeth, unsere
Haushälterin, Ellen Harwood.«
Ellen war
ein schlichtes Mädchen mit einem sommersprossigen Gesicht und zotteligen
rötlichbraunen Haaren. Sie nickte grimmig, antwortete jedoch nicht auf
Eliabeths leisen Gruß.
Jonathan
wartete, bis Ellen nach oben gegangen war, um aufzuräumen, ehe er fragte: »Was,
zum Teufel, ist ein Boogie-Woogie?«
Elisabeth
und Trista sahen einander an und lachten. »Nur ein lebhaftes Lied«, antwortete
Elisabeth.
»Ein sehr
lebhaftes Lied«, bestätigte Trista.
Jonathan
zog seufzend seine Taschenuhr hervor. Er sollte schon seit einer Stunde weg
sein, aber er hatte auf Elisabeth
gewartet, weil er die wachsende Wärme brauchte, die sein verletztes,
starrsinniges Herz erfüllte, wenn er sie ansah. Sich selbst konnte er das
eingestehen, ihr gegenüber nicht. »Wenn du bereit bist, Trista, setze ich dich
auf meinem Weg in die Stadt an der Schule ab.«
Seine
Tochter warf einen Seitenblick auf ihren Gast. »Ich laufe heute morgen, Papa.
Elisabeth möchte meine Schule sehen.«
Jonathan
zog seine Augen zusammen, während er Elisabeth stumm Warnungen übermittelte,
die er vor Trista nicht aussprechen konnte. »Ich bin sicher, sie ist nicht so
unvorsichtig, zu weit zu gehen, so daß sie sich verirrt.«
»Ich bin
sicher, daß sie nicht so unvorsichtig ist«, sagte Elisabeth trocken und betrachtete
ihn mit ihren blaugrünen Augen, deren Schönheit ihn immer wieder faszinierte.
Jonathan
stand vom Tisch auf und nahm sein Jackett von dem Haken neben der Hintertür.
Trista stand mit seiner Arzttasche bereit und sah ihn ernst an. »Keine Sorge, Papa«,
raunte sie, »ich werde gut auf Elisabeth aufpassen.«
Er beugte
sich hinunter, drückte ihr einen Kuß auf den Scheitel und zupfte an einem ihrer
dunklen Zöpfe. »Das machst du bestimmt«, erwiderte er. Nach einem langen Blick
auf Elisabeth verließ er das Haus, um seine Runde anzutreten.
Elisabeth blickte hinter einem mit Heu
beladenen Wagen her, der von zwei müde aussehenden Pferden gezogen wurde.
Noch hatte sie sich nicht an die Bilder und Geräusche eines Jahrhunderts
gewöhnt, das sie für längst vergangen gehalten hatte.
Trista
schaute zu ihr hoch. »Wohin bist du
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