Linda Lael Miller
– ein Kloster?«
Statt einer
Antwort zog Melissande ein silbernes Kruzifix aus ihrer Ordenstracht, hielt es
hoch und nickte.
Dann
stimmte es also. Sie, dieser weibliche Judas, diese Teufelin, hatte Zuflucht in
einem Kloster gesucht. Oder vielleicht war sie hier auch eingeschlossen worden,
in einem verzweifelten Versuch, ihre treulose, verräterische Seele zu retten.
Aber wer
hatte ihn dann zu ihr gebracht?
Wer hatte
ihn gerettet und warum?
Er wußte
keine Antwort auf diese Fragen, obwohl etwas an seinem Unterbewußtsein nagte
und nur darauf zu warten schien, ans Licht gebracht zu werden. Ein Gesicht
hatte sich über ihn gebeugt wie ein schmutzbedeckter Mond, nachdem seine
Angreifer verschwunden waren ... Ein Gesicht, das ihm bekannt gewesen war und
das er trotzdem nicht erkannt hatte ...
Es war
sinnlos, und Christian hatte im Moment genug andere Dinge zu bedenken.
Er starrte
Melissande an und fragte sich, wieso er überrascht war, obwohl er doch längst
die richtigen Schlußfolgerungen getroffen hatte. Ihr Schleier und das einfache
Gewand waren ihm zunächst nicht als seltsam aufgefallen, denn die meisten
Frauen bedeckten ihr Haar, und Melissande
hatte schon immer schlichte Kleidung vorgezogen, obwohl ihr Vater, der
inzwischen wahrscheinlich tot war, wenn sie in dieses Kloster eingetreten war,
ein ausgesprochen reicher Mann gewesen war.
»Großer
Gott«, hauchte Christian und versuchte, sich ein wenig aufzurichten. Ein jäher,
scharfer Schmerz ließ ihn zusammenzucken. »Hast du etwa ... ich meine, bist
du...?«
Sie
schüttelte den Kopf, mit einem schwachen, betrübten Lächeln, und schob das
Kruzifix wieder unter ihr Gewand.
Christian
schloß die Augen, weil er nicht einmal sich selbst eingestehen wollte, daß er
unendlich erleichtert über ihre Antwort war. Er haßte Melissande, wie man nur
jemanden hassen kann, den man einmal über alles geliebt hatte, und doch
schmerzte es wie ein Peitschenschlag, sich auch nur für einen Moment lang
auszumalen, daß sie dem Himmel angehörte.
Melissande
legte eine kühle Hand auf seine Stirn, und obschon sie kein Wort äußerte, hätte
Christian schwören können, daß er sie sagen hörte: »Schlaf«
Melissande döste auf ihrem Stuhl, als
Schwester Domina sie zur Morgenandacht oder zum Mitternachtsgebet weckte.
Christian schlief, und es schmerzte sie, ihn dort so liegen zu sehen, mit
gebrochenen, geschienten Knochen, das hübsche Gesicht so geschwollen und
entstellt, daß sie sich fragte, wie sie ihn am Abend zuvor überhaupt erkannt
hatte.
Aber
natürlich war ihr klar, daß sie ihren Christian überall erkannt hätte, selbst
wenn sie blind gewesen wäre. Er war das Herz ihres Herzens, und als ihr Vater
ihr mitgeteilt hatte, daß er auf See vermißt wurde, hatte sie nicht mehr
weiterleben wollen. Tatsächlich war sie nach Wellingsley Castle geritten, um
noch einmal den verborgenen Garten aufzusuchen, in dem sie und Christian ihre
Gelübde ausgetauscht und wo sie sich, drei Jahre später, auch
körperlich vereinigt hatten. Aus Trauer, nicht aus Scham, hatte sie nach dieser
Wallfahrt versucht, sich von einer der hohen Schloßmauern zu stürzen.
Es war
Christians Bruder, James, gewesen, der sie davor bewahrt hatte, indem er sie
von hinten packte und in seine Arme zog. Worte des Trostes murmelnd, hatte er
ihr vorgeschlagen, ihn zu heiraten, und geschworen, sie glücklicher zu machen,
als sie sich je erträumt habe ...
James
Lithwell, der siebte Earl von Wellingsley, einer der besten Freunde ihres
Vaters.
Sie hatte
ihn natürlich abgewiesen, was ihn ungemein empört hatte ...
»Geh«,
beharrte Schwester Domina und brachte Melissande damit in die Gegenwart
zurück. »Die Mutter Äbtissin wird dich schon erwarten.«
Widerstrebend
ging Melissande hinaus und eilte durch die nächtliche Dunkelheit zu ihrer
Zelle, um rasch ihr Gesicht zu waschen, ihren Schleier zu richten und mit beiden
Händen ihren hoffnungslos zerknitterten Habit glattzustreichen. Dann ging sie
schweren Herzens in die Kapelle zu den anderen. Weitere Andachten würden folgen:
Gegen drei Uhr morgens und dann noch einmal kurz vor Sonnenaufgang. Die Vesper
wurde bei Abenddämmerung abgehalten, und die letzte Andacht fand kurz vor dem
Schlafengehen statt.
Das
Frühstück bestand im allgemeinen aus Haferbrei und grobem Brot, manchmal gab es
dazu Bier und Käse, und danach begaben sich die Bewohnerinnen von St. Bede's an
ihre Tagesarbeit. Einige Schwestern kümmerten sich um den Garten, andere
kochten,
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