Linda Lael Miller
daß der Herrgott oder die Heilige Mutter Gottes
noch länger Schweigen von dir fordern.«
Melissande
biß sich auf die Lippen. Wenn irgend jemand sie dazu hätte bringen können, ein
Wort zu äußern, dann die Äbtissin, die sie liebte, respektierte und bewunderte,
aber sie hatte Angst, es zu versuchen. Angst, daß sie entweder nicht mehr
aufhören könnte zu reden, oder vielleicht erst gar nicht in der Lage zu
sprechen war. Sie war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie nicht schon längst
vergessen hatte, wie man Worte formte.
Mutter
Erylis zog das zusammengerollte Stückchen Pergament aus der Tasche ihres
Gewands und glättete es auf ihrem Schoß. Dort, in zunehmend undeutlicherer
Handschrift, stand Melissandes Teil ihrer Unterhaltung mit Christian.
Ich habe
ein Schweigegelübde abgelegt. Ich habe nicht gesündigt.
Ich habe
keinen Verrat begangen! Warum beschuldigst du mich dessen?
»Warum beschuldigt dieser Mann dich, Kind?« fragte die
Äbtissin sanft.
Melissande
stand auf, setzte sich dann wieder und spreizte die Hände, um sie gleich darauf
vors Gesicht zu schlagen und in Tränen auszubrechen. Ihre Schluchzer, abgesehen
von dem leisen Schrei, den sie ausgestoßen hatte, als sie Christian draußen vor
dem Tor erkannt hatte, waren das erste Geräusch, das seit zwölf Monaten über
ihre Lippen kam.
Die
Äbtissin legte eine Hand auf Melissandes Rücken und klopfte ihr beruhigend auf
die Schulter. »Jemanden zu lieben ist keine Sünde, Kind«, sagte sie.
Melissande
weinte noch herzzerreißender. Sie wußte weder, was sie jetzt tun, noch wohin
sie gehen sollte. Sie hatte Christian für tot gehalten und alle sehnsüchtigen
Gefühle mit seiner Erinnerung begraben. Nun waren diese Gefühle wieder da, in
voller Stärke, und machten es ihr unmöglich, sich der Kirche so zu widmen, wie
sie es vorgehabt hatte. Sie besaß keine Familie mehr; ihr Vater und ihre Stiefmutter
waren an der Pest gestorben, und ihr Haushalt war aufgelöst. Was Christian
betraf, so haßte er sie ganz offenbar. Von ihm war weder Hilfe noch Verzeihung
zu erwarten.
Flehend
schaute sie Mutter Erylis ins gütige Gesicht, und all ihre Gedanken und Ängste
mußten sich in ihren Augen widergespiegelt haben, denn die gute Frau klopfte
ihr von neuem auf die Schulter und sagte tröstend: »Du brauchst dich nicht
heute zu entscheiden. Und vergiß nicht, daß du keine Bettlerin bist. Du besitzt
die Mittel, um eine gute Heirat für dich zu arrangieren.«
Dann war es
also entschieden. Melissande würde niemals Schwester Pieta sein. Und bald
schon würde sie nicht länger in St. Bede's willkommen sein.
Wie hätte
sie erklären sollen, selbst wenn sie bereit gewesen wäre, überhaupt etwas zu
sagen, daß sie nicht irgendeinen Mann heiraten konnte, ganz gleich, welch gute
Heirat er für sie bedeutet hätte? Denn das war ausgeschlossen, nachdem sie
Christian geliebt hatte und er sie.
Sie wagte
der Äbtissin nicht einzugestehen, daß ihr Körper ihm genauso gehörte wie ihre
Seele.
Nein, sie
würde nicht heiraten, und sie würde auch niemals eine Kurtisane werden.
Die Kirche
war ihre einzige Zufluchtsstätte.
Sie kniete
sich auf die glatten Pflastersteine, ergriff beide Hände der Äbtissin und
schaute flehend zu ihr auf.
Doch Mutter
Erylis schüttelte traurig den Kopf. »Du bist nicht dazu berufen, Kind. Es ist
dir bestimmt, dem Herrn auf andere Art zu dienen – als Mutter und als Ehefrau.«
Ihre Worte
trafen Melissande ins Herz. Sie würde nie die besondere Freude erfahren, ihr
eigenes Kind im Arm zu halten, denn niemand außer Christian hätte ihre Kinder
zeugen können. Christian, der sie eher anspucken würde – und sie sogar schon
angespuckt hatte –, als jemanden wie sie zur Frau zu nehmen.
Wahrscheinlich
hätte er sie am liebsten umgebracht. Weinend ließ sie den Kopf auf Mutter
Erylis' Knie sinken.
»Psst«,
sagte die Äbtissin mit zärtlicher Belustigung im Ton. »Es ist das Werk des
Himmels, daß dieser junge Mann zu uns gebracht wurde. Verzweifle nicht.«
Melissande
dachte an die Verachtung, mit der Christian sie angesehen hatte, an die
schrecklichen Dinge, die er gesagt, und die furchtbaren Beschuldigungen, die er
erhoben hatte, und begann vor Verzweiflung zu weinen.
4. Kapitel
Die
Worte kamen rauh
und heiser über ihre Lippen, als Melissande erneut zu Mutter Erylis aufschaute.
»Bitte«, flehte sie. »Erlaubt mir, daß ich bleibe!«
Sanft
berührte die Äbtissin Melissandes Wange. Dann entfernte sie behutsam ihren
Schleier, bis
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