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Linda Lael Miller

Linda Lael Miller

Titel: Linda Lael Miller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denn dein Herz kennt den Weg
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flickten oder nähten, und wieder andere, die privilegiertesten, die
von frühester Kindheit an Unterricht erhalten hatten und mit besonderen
Begabungen gesegnet waren, saßen auf hohen Stühlen in dem großen Saal gleich
neben der Kapelle und fertigten Kopien von kirchlichen Manuskripten an, aber
auch von weltlichen Schriften, die in der Außenwelt verkauft wurden.
Melissande, die immer viel gezeichnet und gemalt hatte und das Lesen und Schreiben
schon mit vier Jahren
erlernt hatte, fertigte die Zeichnungen für diese Bücher an.
    An jenem
Morgen jedoch hatte sie keine Geduld für ihre Arbeit, obwohl das Zeichnen sonst
ihr größter Trost war. Sie verstand es ganz besonders gut, Engel darzustellen,
in wunderschönen, fließenden Roben, die auf irgendeinem großen, kunstvoll
gezeichneten Anfangsbuchstaben ruhten oder über einer Gruppe staunender
Schäfer schwebten. Sie zeichnete auch gern Adam und Eva im Paradies und die
zehn Jungfrauen mit ihren Lampen, hatte aber noch nie Noah und seine Arche als
Motiv benutzt, obwohl sie Tiere liebte.
    Da sie fest
davon überzeugt gewesen war, daß Christian im Meer ertrunken sei, war
Melissande nie imstande gewesen, irgendeine Art von Schiff zu zeichnen.
    Nachdem sie
eine Feder, ein Fäßchen Tmte und ein Stück Pergament von ihrem Zeichentisch
geholt hatte, kehrte sie auf die Krankenstation zurück. Christian sah noch
schlimmer aus als in der Nacht zuvor, obwohl er inzwischen wach war und
aufrecht im Bett an seinen Kissen lehnte. Er aß Haferbrei aus einer Holzschale
und warf Schwester Domina böse Blicke zu, wann immer sie auch nur den kleinsten
Versuch machte, ihm zu helfen.
    Beim
Anblick Melissandes setzte er die Holzschale geräuschvoll ab und runzelte die
Stirn. »Verschwinde!« herrschte er sie an.
    Melissande
zögerte nur einen Moment lang, während die arme Schwester Domina mit
fassungsloser Miene neben Christians Bett stand. Auf eine Geste hin verließ die
fromme, aber scheue Schwester fluchtartig das Krankenzimmer.
    Christian
warf ihr den Haferbrei nach, und krachend landete die Holzschale auf dem
glatten Steinboden.
    Melissande
schüttelte den Kopf und gab sich keine Mühe, ihren Ärger zu verbergen, als sie
in das Zimmer ging wie ein weiblicher Daniel in die Löwengrube.

3. Kapitel
    Melissande gab sich Mühe, gebieterisch zu
wirken, als sie an Christians Bett trat, aber das war buchstäblich unmöglich,
weil sie keine große Frau und zartknochig wie ein Vogel war. Sie hatte die
Holzschale auf dem Weg durchs Zimmer aufgehoben und sie ebenso lautstark wie er
selbst zuvor auf dem Nachttisch abgestellt, um ihm zu zeigen, daß er nicht die
Oberhand behalten würde.
    Er zuckte
nicht zusammen, aber seine blauen Augen funkelten vor Zorn, als er zu ihr
aufschaute. Von ihnen beiden war Christian mit Abstand der Schönere – oder war
es zumindest vor der Prügelei gewesen, die ihn zu den Toren von St. Bede's
geführt hatte. Seine aristokratischen Gesichtszüge waren geradezu perfekt; sein
Körper stark und geschmeidig. Und obwohl er schön wie ein gefallener Engel war,
war nichts Weibliches an ihm. Nein, er war schon immer ungeheuer männlich
gewesen, und Melissande hegte nicht den geringsten Zweifel, daß sich das auch
nach den durchstandenen Leiden nicht geändert hatte.
    Sie
zitterte ein wenig, als sie sich an seine Küsse erinnerte, an die herrlich
sündigen Wünsche, die er in ihrem unerfahrenen Körper erweckt hatte. Sie hatte
das Lager mit Christian geteilt, zur Feier ihrer Liebe, kurz bevor er in See
gestochen war, und obwohl dieser Fehltritt ihr Leid verursacht hatte, hatte sie
ihn nie bereut. Denn es konnte nie wieder einen anderen Liebhaber für
Melissande geben, nie wieder.
    Eine Träne
löste sich und rollte über ihre Wange. Er war nicht mehr derselbe Mann, den sie
seit frühester Kindheit so gut gekannt und so sehr geliebt hatte. Nein, diesen Christian hatte sie verloren, und ein anderer war an seiner Statt
zurückgekehrt, unwiderruflich verändert durch das, was auch immer er in der
langen Zeit ihrer Trennung erlebt und erlitten haben mochte.
    Es war
offensichtlich, daß er sie verabscheute und ihr die Schuld gab an allem, was
ihm zugestoßen war. Doch was das war, darauf besaß sie nicht den
kleinsten Hinweis.
    Als ihr
Blick auf die Feder und das Pergament fiel – das kleine Tintenfäßchen steckte
in der Tasche ihrer Robe –, legte sie das Material auf den Nachttisch, tauchte
die Feder ein und schrieb: Ich habe ein Schweigegelübde abgelegt.
    »Ein

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