Linda Lael Miller
dessen
stellte er seinen Korb mit Kräutern und anderen Medikamenten auf den Tisch,
klappte den Deckel auf und begann herauszunehmen, was er brauchte.
Nachdem er
Christian die Stiefel abgestreift hatte, zerschnitt der Mönch seine Hosen und
sein Hemd und entfernte beides vorsichtig.
»Ganz
ruhig«, murmelte Bruder Nodger, als Christian sich in einem Anfall innerer Qual
aufbäumte. »Friede sei mit dir, mein Bruder. Du bist in guten Händen, niemand
wird dir hier etwas zuleide tun.«
Melissande
erhitzte Wasser und holte es, als der Mönch sie darum bat, und dann beobachtete
sie in atemlosem Schweigen,
wie er verschiedene Salben auf Christians Wunden auftrug und sie mit den
sauberen Leinentüchern verband, die die Schwestern zurechtgelegt hatten.
Was, in
Gottes Namen, mag ihm nur zugestoßen sein? fragte sie sich jetzt, wo sie
etwas ruhiger war und sich endlich wieder auf einen klaren Gedanken
konzentrieren konnte.
Als Bruder
Nodger seine Aufgabe beendet hatte, räumte er seine Medikamente fort, schloß
den großen Korb und richtete einen ernsten Blick auf seinen Patienten.
»Gottes
Segen sei mit dir, mein Sohn«, sagte er leise und segnete den reglosen jungen
Mann vor ihm. Dann, seinen gütigen Blick auf Melissandes gequälte Miene richtend,
fügte er liebevoll hinzu: »Und auch mit dir, mein Kind.«
Melissande
verspürte ein jähes, fast überwältigendes Bedürfnis, sich in die Anne des
Mönchs zu stürzen und an seiner Brust zu weinen, aber mit siebzehn war sie eine
erwachsene Frau, und nur Kindern war es gestattet, auf diese Art und Weise
Trost zu suchen. Außerdem wäre es unschicklich gewesen, solch persönliche
Gefühle öffentlich zur Schau zu stellen.
Bruder
Nodger ging nach einem letzten, resignierten Blick auf seinen Patienten, und
Melissande, noch immer in ihrer regennassen Ordenstracht und Haube, setzte sich
auf einen Hocker, weil sie Christian nicht einmal lange genug verlassen wollte,
um trockene Sachen anzuziehen. Die Lampen brannten aus, eine nach der anderen,
und mußten aufgefüllt werden, was Melissande an eine Zeichnung erinnerte, die
sie erst kürzlich von mürbem Schafsleder auf schweres Pergament kopiert hatte.
Es war die Geschichte von zehn Jungfrauen, die ihren Bräutigam bei Nacht
erwarteten. Einige achteten darauf, daß ihre Lampen nicht erloschen; andere
ließen sie ausgehen und durften als Strafe für ihre Nachlässigkeit nicht an
der Hochzeit teilnehmen.
Irgendwann
mitten in der Nacht öffnete Christian endlich seine Augen. Er schaute
Melissande sehr lange an und während sein hübsches, zerschlagenes Gesicht
anfangs noch starr vor Fassungslosigkeit war, wurde es schließlich hart vor
Groll. Mit einer Stimme, die so rauh klang, daß es Melissandes eigene Kehle
verletzte, sie zu hören, stieß er hervor: »Es ist also, wie ich gehofft hatte!
Ich bin tot und in der Hölle ... und das ist ganz gewiß ein besserer Ort als
jener, an dem ich diese letzten beiden Jahre war. Wie könnte es auch anders
sein ... wo du doch hier bist ... des Teufels Liebste!« Er hielt inne, um
mühsam Luft zu holen. »Sag mir doch, Melissande – wo ist Luzifer, dein
Gebieter?«
2. Kapitel
Es war
wirklich Melissande
und nicht ein Traum, eine Vision oder gar ein Gespenst, wie er zuerst vermutet
hatte.
Christian
starrte zu ihr auf, durch einen Nebel aus Zorn und Qual. Die Qual war sowohl
körperlich als auch seelisch, während sein Zorn etwas viel Elementareres war
und tief in seinem Herzen wurzelte.
Melissande
Bradgate – seine Geliebte, seine Freundin, sein Ideal.
Seine
Verräterin.
Tränen
glitzerten in ihren schönen Augen, und einige Strähnen ihres dunklen Haars
hatten sich aus dem Schleier gelöst und klebten an ihrer hellen, makellosen
Haut. Ihre Unterlippe zitterte.
Christian
konnte nicht verhindern, daß er an den süßen Vollzug ihrer Liebe zurückdachte,
im schwachen Dämmerlicht in einem Garten, drei volle Jahre nachdem sie sich
zum erstenmal ihre Liebe gestanden hatten, aber er verdrängte das Bild aus
seinem Bewußtsein, so rasch er konnte. Lieber hätte er sich an einen Mast
binden und auspeitschen lassen, als den Hohn dieser Erinnerung noch einmal zu
ertragen.
»Wenn ich
jetzt mein Schwert hätte«, wisperte er, »dann würde ich dich damit durchbohren,
das schwöre ich dir bei allem,
was mir heilig ist.« Und dann mich selbst, weil ich nicht mehr weiterleben
könnte, wenn ich eine solche Gewalttat an dir begangen hätte.
Melissande
hob das Kinn, straffte die schmalen Schultern
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