Linda Lael Miller
das lange, dunkle Haar
ihr offen auf die Schultern fiel. »Es tut mir leid, mein Kind«, erwiderte die
alte Frau. »Du bist für dieses Leben nicht geeignet.«
»Aber ich
zeichne sehr schön und habe eine gute Handschrift. Das habt Ihr selbst
gesagt!«
»Dein Herz
ist rebellisch, Kind, voll irdischer Leidenschaften. Dein Körper ist ein
fruchtbares Feld, das die Zeit der Saat und Ernte erwartet, und dein Geist,
obwohl wach und rege, neigt dazu, weit über die Grenzen dieser bescheidenen Gemäuer
hinauszuschweifen. Nein, dein Platz ist ganz entschieden außerhalb von St.
Bede's.« Mutter Erylis zwang Melissande, sich aufzurichten, und kniff die Augen
zusammen vor der hellen Junisonne, als sie zu dem jungen Mädchen hochschaute.
»Hab keine Angst, in die Welt hinausgestoßen zu werden, bevor du einen Ort
gefunden hast, an dem du bleiben kannst. Du darfst bei uns bleiben, bis Gott
dir zeigt, was er für dich beabsichtigt.«
Melissande
spürte einen Augenblick lang leise Hoffnung in sich erwachen, doch nur, um
gleich darauf wieder in tiefste Verzweiflung zu verfallen. Auf der ganzen Welt
war Christian der einzige, der sie wirklich kannte, und er verabscheute sie von
ganzem Herzen. War es Gottes Wille, daß sie abgewiesen und entwürdigt wurde?
Etwas anderes sah sie nicht in der Zukunft, die vor ihr lag.
»Geh zu
deinem kranken Freund«, schlug die Äbtissin ruhig vor. »Sprich mit ihm. Was
auch immer zwischen euch vorgefallen ist, bring es in Ordnung, Kind.«
Melissande
warf einen sehnsuchtsvollen Blick zu der Kammer, in der Christian lag und von
Bruder Nodger versorgt wurde. Im Vergleich zu ihrem eigenen Kummer hatte
Christian offensichtlich erheblich mehr gelitten. Er war Sklave gewesen, hatte
er gesagt, was nur bedeuten konnte, daß Schurken ihn entführt und an eine der
vielen Galeeren verkauft hatten, die ständig zwischen den Häfen Englands,
Frankreichs, Flanderns, Norwegens und Dänemarks, Italiens und Griechenlands
unterwegs waren, ja sogar Afrikas und des weiten, kalten Rußlands. Christian
war ein Galeerensklave gewesen.
Und sie
besaß selbst derartige Schiffe. Schiffe, die von Männern gerudert wurden, die
gegen ihren Willen dienten.
Da
Melissande kein Mensch war, der sich etwas aus Reichtum machte, hatte sie wenig
über das Erbe nachgedacht, das ihr verstorbener Vater und seine berechnende
junge Frau ihr hinterlassen hatten, Eleanora, die kaum älter gewesen war als
Melissande selbst.
Jetzt, als
ihr klar wurde, was es bedeutete, derartige Handelsschiffe zu besitzen,
überwältigte sie Scham – so heftig, daß sie schwankte und in stummem Entsetzen
eine Hand vor den Mund schlug. Mutter Erylis sprang auf und ergriff ihren Arm.
»Was ist,
Kind?«
»Meine ...
Schiffe ...« wisperte Melissande. Das Sprechen fiel ihr schwer; es würde Übung
erfordern, es wieder zu erlernen, und der Preis, wie bei so vielen anderen Dingen,
würde in Qual berechnet werden.
Mutter
Erylis schüttelte verständnislos den Kopf »Du solltest in deine Zelle gehen und
dich hinlegen, Kind. Du siehst ganz blaß aus.«
Melissande,
die tatsächlich so erschüttert war, daß sie sich kaum noch auf den Beinen
halten konnte, vermochte nur zustimmend zu nicken. Schweigend wandte sie sich
ab, um zu ihrer Kammer zu gehen, wie ihr aufgetragen worden war, aber nicht, um
auszuruhen. Statt dessen kniete sie auf dem hölzernen Boden nieder und richtete
den Blick auf das winzige Stückchen Himmel, das durch den schmalen
Fensterschlitz zu sehen war. Demütig faltete sie die Hände und bat um
Vergebung für ihre Unwissenheit hinsichtlich der vier Galeeren, die sich in
ihrem Besitz befanden. Und wenn sie nichts anderes mehr tat in ihrem Leben –
diese vier Schiffe würde sie zum Hafen zurückbefehlen, die Männer an Bord
befreien und jedem von ihnen genügend Gold geben, damit er ein neues Leben
beginnen oder in seine Heimat zurückkehren konnte.
Ihr
Vermögensverwalter würde sicher lautstark protestieren,
ebenso wie die Notare und anderen Angestellten, die sie zusätzlich
beschäftigte, aber nichts würde sie von ihrem Kurs abbringen. Sie schuldete den
Sklaven Gnade und Entschädigung, und sie würde sie ihnen geben oder bei dem
Versuch ihr Leben lassen.
Diese
Entscheidung gab ihr neue Kraft. Nach einer Weile stand Melissande auf, strich
ihre zerdrückten Röcke glatt und versuchte ihr Haar zu bändigen, indem sie mit
den Fingern hindurchfuhr wie mit einem Kamm. Sie wusch ihr Gesicht mit kaltem
Wasser aus der Schüssel auf dem Waschtisch,
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