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Linda Lael Miller

Linda Lael Miller

Titel: Linda Lael Miller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denn dein Herz kennt den Weg
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dem einzigen Möbelstück in ihrer
winzigen Zelle außer dem Bett, das an der einen Wand stand, und begab sich in
den Saal, in dem die Manuskripte vervielfältigt und illustriert wurden.
    Dort borgte
sie sich Tinte, nahm eine Feder aus dem Schrank und beschaffte sich eine
Pergamentrolle. Nach reiflicher Überlegung begann sie den ersten Befehl zu formulieren,
den sie als rechtmäßige Eigentümerin der Firma Bradgate je erteilt hatte. Die
Galeeren hatten unverzüglich in den Heimathafen zurückzukehren, wo sie als
Segelschiffe ausgestattet werden sollten, falls das möglich war. (Melissande
hatte keine Ahnung, ob es möglich war, aber da die einzig andere
Alternative war, die Schiffe zu versenken, erschien es ihr vernünftiger, zu
versuchen, sie zu retten.) Jedem Sklaven an Bord sollten zehn Gulden ausgezahlt
werden, bevor er ungehindert das Schiff verlassen durfte. Sie versprach, bei
der ersten sich bietenden Gelegenheit nach London zu kommen, um das Geschäft
dort entweder zu verkaufen oder persönlich seine Leitung zu übernehmen.
    Melissande
lächelte, zum erstenmal, seit sie Christian in der Nacht zuvor gefunden hatte,
als sie an die Aufregung dachte, die ihre Botschaft in den Büros der Bradgate
Company auslösen würde.
    Nun, wo
alles erledigt war, fühlte sie sich besser, obwohl sie wünschte, sie könnte
ihre Befehle noch im selben Augenblick in die Tat umsetzen.
    Als sie
Sand über das Dokument gestreut hatte, um die überflüssige Tinte aufzusaugen,
und ihn dann vorsichtig in einen dafür vorgesehenen Eimer geschüttet hatte,
rollte Melissande das Pergament zusammen, wickelte eine dünne Schnur darum und
machte sich auf die Suche nach der Äbtissin.
    Ohne nach
dem Inhalt der Schriftrolle zu fragen, versprach Mutter Erylis, sie noch am
selben Nachmittag abzusenden, mit der nächsten Kutsche, die durch die nahe
Ortschaft Gilly fuhr. Mit etwas Glück und ohne unvorhergesehene Zwischenfälle
würde die Botschaft London schnell erreichen.
    Beruhigt
ging Melissande, um nach Christian zu sehen – Bruder Nodger war fort, und der
Patient schlief friedlich – und kehrte dann in den großen Saal zurück. Ihr Haar
war unbedeckt, und die Nonnen warfen ihr neugierige Blicke zu, aber keine
stellte Fragen. In so mancher Hinsicht, das war Melissande bewußt, war sie
ihren Mitschwestern ein Rätsel, weil sie in so vielen Dingen anders war. Die
guten Schwestern lächelten und schüttelten die Köpfe, wenn Melissande die
Schuhe auszog, um durch die Brandung zu waten, die an die Küste schlug, wenn
sie auf einen Baum stieg, um das Kätzchen irgendeines Kindes aus dem Dorf
herabzuholen, oder Butterpat, dem kleinen Esel, beibrachte, mit seinem
Vorderhuf bis fünf zu zählen und sich dann zu verbeugen wie ein Gaukler vor dem
Beifall seines Publikums.
    Nachdem
Melissande Palette und Pinsel aus dem Schrank geholt hatte, setzte sie sich an
ihr Pult und beugte sich über eine Zeichnung, die Mariä Verkündigung darstellte.
Sie hatte schon tagelang daran gearbeitet und fügte nun Blau hinzu für das
Kleid der Jungfrau, einen reinen, lebendigen Farbton, so intensiv, daß er vom
Pergament zu springen schien. Eine Zeitlang dachte sie weder an Christians Haß
noch an die Tatsache, daß Mutter Erylis beabsichtigte, sie aus der Abtei
fortzuschicken, dem einzigen Heim, das ihr noch geblieben war. Ihre Arbeit nahm
sie so vollkommen in Anspruch, daß sie an nichts anderes mehr dachte.
    Christian
erwachte mitten in
der Nacht, erstaunt und zugleich auch nicht erstaunt, Melissande in
seiner Kammer vorzufinden, auf einem Schemel und das Kinn auf ihrer Brust. Sie
hatte ihren Schleier abgelegt, und ihr schönes Haar fiel ihr offen auf die
Schultern. Es glänzte wie poliertes Ebenholz im Mondschein, und dieser Anblick
löste ein schmerzhaftes Ziehen in Christians Lenden aus.
    Von dem
Augenblick an, in dem sein Leidensweg begonnen hatte, in jener Nacht vor zwei
Jahren, als er auf der dunklen Straße vor John Bradgates prunkvollem Haus in
Taftshead niedergeschlagen und bewußtlos zu den Londoner Docks geschleift
worden war, hatte Christian all seinen Kummer, seine Enttäuschung und seine
Furcht für sich behalten und so tief in sich verschlossen, daß niemand etwas
davon ahnte. Doch nun, wo er einstweilen sicher war in diesem Kloster an der
See – er konnte das Rauschen der Wellen hören und nahm den nur allzu vertrauten
Salzgeruch wahr –, schien seine eiserne Selbstbeherrschung ihn schließlich
doch im Stich zu lassen.
    Er weinte
leise, im Schutz

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