Linda Lael Miller
zu
Lincoln aufsah, fragte sie sich, ob das, was sie empfand – eine verrückte
Mischung aus Sehnsucht und Wehmut und unzähligen anderen Dingen, die sie nicht
benennen konnte –, Liebe sein könnte.
Aber das
war natürlich unmöglich. Sie kannte Lincoln erst seit ein paar Tagen. Wie hätte
sie in so kurzer Zeit lernen sollen, ihn zu lieben?
»Ich ...
ich bin nicht sicher, wann ich bereit sein werde, Lincoln«, gestand sie. »Ich
habe noch nie ... Ich meine, John und ich haben nicht ... hätten niemals ...«
Sanft
strich er über ihren langen Zopf, um dann spielerisch daran zu zupfen. »Wir
lassen uns Zeit, Juliana«, wiederholte er, dann blitzte es in seinen blauen
Augen auf. »Allerdings nicht allzu viel Zeit.«
Ein
köstlicher Schauer durchfuhr sie, bis sie sich daran erinnerte, was sie von
anderen Frauen gehört hatte.
»Was hast
du?«, erkundigte sich Lincoln.
»Wird es
wehtun?«, fragte sie und errötete.
Zärtlich
strich er mit den Fingerrücken über ihre Wange. »Beim ersten Mal vielleicht ein
wenig. Doch ich werde sehr vorsichtig sein, Juliana. Versprochen.«
Und sie
glaubte ihm. Vielleicht kannte sie Lincoln Creed nicht besonders gut, aber in
mancher Hinsicht war sie sich einfach sicher. Viele Männer hätten Gracie nach
dem Tod der Mutter zu Verwandten geschickt – oder sie in ein weit entferntes
Mädcheninternat gesteckt. Lincoln aber hatte sie bei sich behalten. Er liebte
seine Tochter, das war nicht zu übersehen, aber er verzog sie nicht.
Er hatte
eine fremde Frau und vier indianische Kinder mit nach Hause genommen, nur weil
sie nicht wussten, wo sie hinsollten. Er war gestern da gewesen und hatte
getan, was immer er tun konnte, um einer jungen Frau bei der Geburt ihres
ersten Kindes zu helfen, trotz ihrer Schreie und des vielen Bluts. Und jeden
Morgen, so bitter kalt es auch sein mochte, stand er vor Tagesanbruch auf und
kümmerte sich darum, dass seine Tiere nicht hungerten.
Sie stellte
sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Seine Bartstoppeln
kitzelten an ihren Lippen. »Ich bringe jetzt besser Daisy und Billy-Moses zu
Bett. Macht es dir etwas aus, wenn ich sie zuerst bade?«
»Das ist
jetzt auch dein Haus, Mrs Creed. Du musst niemandem um Erlaubnis bitten, wenn
du die Badewanne oder alles andere, was mir gehört, benutzen willst.«
Ein leicht
ungutes Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie nahm all ihren Mut zusammen und
fragte: »Wo wir gerade von Mrs Creed sprechen. Was wird deine Mutter sagen,
wenn sie erfährt, dass du geheiratet hast?«
»Das
interessiert mich nicht sonderlich«, entgegnete Lincoln leichthin. »Ich
schätze, sie wird anfangs ein wenig feindselig sein, aber wenn sie dich erst
besser kennt, wird sie dich bestimmt mögen. Wie auch immer, sie kommt erst in
ein paar Monaten aus Phoenix zurück – sie hasst das kalte Wetter. Jedes Jahr
droht sie damit, für immer in Phoenix zu bleiben, weil es in Stillwater Springs
keine ,Kultur` gibt, wie sie sagt. Ich glaube, sie kommt nur zurück, weil sie
befürchtet, Gracie würde ohne sie anfangen, zu fluchen, Tabak zu kauen und
Hosen zu tragen.«
Bei der
Vorstellung musste Juliana lächeln. Eines stand fest: Gracie Creed würde
niemals ein gewöhnliches Mädchen werden. »Ich finde, dass du und Tom
ganz wunderbar für Gracie sorgt.«
Lachend
zupfte er noch einmal an ihrem Zopf. »Ich werde jetzt das Feuer im Boiler
anmachen, damit du warmes Wasser für das Bad hast«, sagte er und verließ das
Zimmer.
Juliana sah
ihm hinterher, bis er im Flur verschwunden war, dann ging sie in die Küche.
Tom und der
Reverend spülten das Geschirr, während Joseph laut aus Oliver Twist vorlas.
Theresa wischte den Tisch mit einem nassen Lappen ab, und Gracie, Daisy und
Billy-Moses spielten neben dem Ofen mit den Alphabet-Klötzchen.
»So heißt
du«, sagte Gracie gerade und legte die Klötzchen so hin, dass sie den Namen Daisy ergaben.
Daisy
starrte die Klötze verständnislos an. Schließlich war sie erst drei.
»Leg Bill«, drängte Billy-Moses sie.
»Zeit für
euer Bad«, unterbrach Juliana sie.
Daisy, die
gern badete, sprang umgehend auf. Auf Billy-Moses' kleinem Gesicht hingegen
zeichnete sich Entsetzen ab.
»Ich will
nicht baden«, jammerte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
Reverend
Dettly drehte sich lächelnd um, Schaum tropfte von seinen riesigen Händen.
Juliana dachte auf einmal, dass er wahrscheinlich ein sehr einsames Leben
führte, so wie er von Ort zu Ort reiste und im Stall anderer
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