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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Text?«
    »Nicht immer. Wenn ich Zeit habe.«
    Für Fleming und seine Kollegen war die Annäherung an die Kultur – wie lästerlich das auch klingt – nur in der Untersuchungstätigkeit möglich. Eine Bekanntschaft mit Menschen des literarischen und öffentlichen Lebens, verzerrt und trotzdem in gewisser Hinsicht echt, authentisch, nicht durch tausend Masken verdeckt.
    So war der Hauptinformant über die künstlerische Intelligenz jener Jahre und ständiger, nachdenklicher und qualifizierter Autor aller möglichen »Memoranden« und Berichte über das Schriftstellerleben – und dieser Name überrascht nur auf den ersten Blick – Generalmajor Ignatjew . Fünfzig Jahre in Reih und Glied. Vierzig Jahre in der sowjetischen Aufklärung.
    »Ich hatte dieses Buch ›Fünfzig Jahre in Reih und Glied‹ damals schon gelesen, als ich die Berichte kennenlernte und dem Autor selbst vorgestellt wurde. Oder er mir vorgestellt wurde«, sagte Fleming nachdenklich. »Kein schlechtes Buch, ›Fünfzig Jahre in Reih und Glied‹.«
    Fleming war nicht sehr für Zeitungen, Zeitungsnachrichten, Radiosendungen zu haben. Internationale Ereignisse beschäftigten ihn wenig. Ganz anders die Ereignisse im Inland. Flemings stärkstes Gefühl war ein unklarer Groll gegen die düstere Kraft, die dem Gymnasiasten versprochen hatte, das Unerreichbare zu erreichen, ihn hoch erhoben und jetzt in den Abgrund gestürzt hatte, schamlos oder spurlos – ich konnte mir einfach das richtige Ende des berühmten Liedes aus meiner Kindheit nicht merken: »Es tost, es glüht der Brand von Moskau.«
    Seine Heranführung an die Kultur war eigentümlich. Irgendwelche Schnellkurse, eine Exkursion in die Eremitage. Der Mensch entwickelte sich, und entwickelt hatte sich ein Untersuchungsführer und Ästhet, den das grobe Volk schokkierte, das in den dreißiger Jahren in die »Organe« strömte, der hinweggefegt, vernichtet wurde von der »neuen Welle«, die sich zur groben physischen Kraft bekannte und nicht nur psychologische Feinheiten verachtete, sondern sogar die »Fließbänder« oder das »Durchstehen«. Die neue Welle hatte einfach nicht die Geduld für irgendwelche wissenschaftlichen Berechnungen, für hohe Psychologie. Ergebnisse waren, wie sich herausstellte, leichter durch gewöhnliches Schlagen zu erzielen. Die zögerlichen Ästheten wurden selbst »auf den Mond« geschossen. Fleming blieb durch Zufall am Leben. Die neue Welle hatte keine Zeit zu warten.
    Der hungrige Glanz in Flemings Augen war erloschen, und die professionelle Aufmerksamkeit meldete sich wieder zu Wort ...
    »Hör mal, ich habe dich angeschaut während der Konferenz. Du hast an etwas anderes gedacht.«
    »Ich möchte mir nur alles merken, mir merken und beschreiben.«
    Irgendwelche Bilder taumelten in Flemings Hirn, das sich schon erholt, schon beruhigt hatte.
    ____
    In der neurologischen Abteilung, wo Fleming arbeitete, gab es einen riesigen Letten, der ganz offiziell die dreifache Ration bekam. Jedesmal, wenn sich der Riese ans Essen machte, setze sich Fleming ihm gegenüber, unfähig, seine Begeisterung vor dem gewaltigen Fressen zu bremsen.
    Fleming trennte sich nie von seinem Kochgeschirr, demselben Kochgeschirr, das er aus dem Norden mitgebracht hatte ... Das war ein Talisman. Ein Talisman von der Kolyma.
    In der neurologischen Abteilung hatten die Ganoven eine Katze gefangen, getötet und gekocht und Fleming als diensthabenden Feldscher bewirtet – das traditionelle »Stupfgeld«, das Bestechungsgeld, der Kalym der Kolyma. Fleming aß das Fleisch und sagte nichts zu der Katze. Das war die Katze aus der chirurgischen Abteilung.
    Die Lehrgangsteilnehmer hatten Angst vor Fleming. Aber vor wem hatten die Lehrgangsteilnehmer keine Angst? Im Krankenhaus arbeitete er schon als Feldscher, als fester medizinischer Mitarbeiter. Alle waren ihm feindlich gesonnen, nahmen sich vor Fleming in acht, spürten in ihm nicht nur den Mitarbeiter der Organe, sondern auch den Hüter eines außerordentlich wichtigen, schrecklichen Geheimnisses.
    Die Feindseligkeit wuchs, das Geheimnis verdichtete sich nach einer plötzlichen Reise Flemings zu einem Treffen mit einer jungen Spanierin. Sie war eine echte Spanierin, Tochter eines Mitglieds der Regierung der Spanischen Republik. Eine Aufklärerin, die sich im Netz der Provokationen verfangen und eine Haftstrafe bekommen und die man zum Sterben an die Kolyma befördert hatte. Aber Fleming, so stellte sich heraus, war nicht vergessen von seinen alten

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