Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
Lohnsatz, der schnelle Rubel. Und was hatte Braude? Zehn Jahre Haft auf dem Buckel und eine sehr zweifelhafte Zukunft. Braude kam aus Saratow, war Schüler des berühmten Krause und selbst sehr vielversprechend gewesen. Doch das Jahr siebenunddreißig hatte Braudes gesamtes Schicksal in Trümmer gelegt. Soll er sich also an Kubanzew rächen für sein Unglück ...
Und Braude kommandierte, operierte, fluchte. Braude lebte und vergaß sich selbst, und obwohl er sich in nachdenklichen Momenten oft verwünschte für diese verachtungswürdige Selbstvergessenheit – er konnte sich nicht ändern.
Heute beschoß er: »Ich verlasse das Krankenhaus. Ich fahre aufs Festland.«
... Am fünften Dezember des Jahres neunzehnhundertsiebenundvierzig lief das Dampfschiff »KIM« mit menschlicher Fracht – dreitausend Häftlingen – in die Bucht von Nagajewo ein. Unterwegs hatten die Häftlinge revoltiert, und die Leitung beschloß, alle Schiffsräume unter Wasser zu setzen. All das geschah bei vierzig Grad Frost. Was Erfrierungen dritten, vierten Grades sind, wie Braude sagte – oder Abfrierungen, wie Kubanzew sich ausdrückte –, konnte Kubanzew am allerersten Tag seines einträglichen Dienstes an der Kolyma erfahren.
Das alles mußte man vergessen, und Kubanzew, ein disziplinierter und willensstarker Mann, tat das auch. Er zwang sich zu vergessen.
Nach siebzehn Jahren erinnerte sich Kubanzew an den Namen und Vatersnamen jedes gefangenen Feldschers, an jede Krankenschwester, er erinnerte sich, wer von ihnen mit welchem Häftling »lebte«, gemeint sind damit Lager-Verhältnisse. Er erinnerte sich an den genauen Rang jedes der niederträchtigeren Chefs. Nur an eins erinnerte sich Kubanzew nicht – an den Dampfer »KIM« mit dreitausend Häftlingen und ihre Erfrierungen.
Bei Anatole France gibt es eine Erzählung »Der Statthalter von Judäa«. Dort kann sich Pontius Pilatus nach siebzehn Jahren nicht an Christus erinnern.
1965
Die Aussätzigen
Gleich nach dem Krieg wurde vor meinen Augen im Krankenhaus ein weiteres Drama gespielt – genauer gesagt, das Ende eines Dramas.
Der Krieg hatte Schichten, hatte Stücke des Lebens von seinem Grund nach oben und ans Licht gehoben, die sich immer und überall vor dem hellen Sonnenlicht versteckt hatten. Das sind nicht die Kriminellen, keine Untergrundzirkel. Das ist etwas vollkommen anderes.
Während der Kriegshandlungen waren die Leprastationen zerschlagen worden, und die Aussätzigen hatten sich unter die Bevölkerung gemischt. War das ein heimlicher oder ein offener Krieg? Ein chemischer oder bakteriologischer?
Die vom Aussatz Befallenen konnten sich leicht als Verwundete ausgeben, als Kriegskrüppel. Die Aussätzigen mischten sich unter die gen Osten Fliehenden und kehrten zurück ins wirkliche, wenn auch schreckliche Leben, wo man sie für Kriegsopfer hielt, vielleicht für Helden.
Die Aussätzigen lebten und arbeiteten. Der Krieg mußte zu Ende gehen, damit sich die Ärzte an die Aussätzigen erinnerten und die schrecklichen Karteikästen der Leprastationen sich wieder zu füllen begannen.
Die Aussätzigen hatten unter den Menschen gelebt und den Rückmarsch, den Vormarsch, die Freude oder Bitternis des Siegs geteilt. Die Aussätzigen hatten in Fabriken und auf dem Feld gearbeitet. Sie waren Chefs und Untergebene geworden. Nur Soldaten waren sie niemals geworden, daran hinderten sie die Fingerstümpfe, die den Kriegsverwundungen ähnlich, zum Verwechseln ähnlich waren. Die Aussätzigen gaben sich auch als Kriegskrüppel aus – Einzelne unter Millionen.
Sergej Fedorenko war Leiter des Lagerhauses. Als Kriegsinvalide kam er mit seinen widerspenstigen Fingerstümpfen geschickt zurecht und machte seine Sache gut. Ihn erwarteten Karriere und Parteibuch, doch kaum hatte Fedorenko Geld, begann er zu trinken, zu bummeln, er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und kam mit einem der Kolymaschiffe nach Magadan, zu zehn Jahren verurteilt nach einem Sozialparagraphen.
Hier änderte Fedorenko seine Diagnose. Obwohl es auch hier genug Krüppel, zum Beispiel Gliederabhacker, gab. Aber es war vorteilhafter, moderner, weniger auffällig, in der Flut der Erfrierungen unterzugehen.
Und so traf ich ihn auch im Krankenhaus an – Folgeerscheinungen von Erfrierungen dritten, vierten Grades, eine nicht verheilende Wunde, Fußstumpf, Fingerstümpfe an beiden Händen.
Fedorenko wurde behandelt. Die Behandlung brachte keine Ergebnisse. Aber jeder Kranke widersetzte sich ja der Behandlung,
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