Keinesfalls Liebe (German Edition)
Prolog „Na endlich“, murmelte ich, als das Flugzeug abhob.
Die Frau neben mir umklammerte mit fest zusammengepressten Lippen die Armstützen ihres Sitzes. Mitleid durchströmte mich, aber es war mir auch unbegreiflich, wie man Flugangst haben konnte – es gibt nicht viele Gefühle, die ich angenehmer empfand als dieses aufregende Magenschlingern, wenn ein Flugzeug abhebt. Meiner Nachbarin schien es nicht allzu gut zu gehen, denn sie war völlig erstarrt; kein Muskel zuckte, sie bewegte sich nicht.
Vor lauter Vorfreude hatte ich am Flughafen nichts essen können, doch jetzt war der Knoten fort und mein Magen knurrte fordernd. Es dauerte nicht lange, bis eine Stewardess mit dem Getränkewagen in meine Nähe kam. Mein geliebter Tomatensaft! Gut, dass ich daran gedacht hatte, amerikanische Dollar in mein Handgepäck zu tun.
Etwas später fiel mir etwas auf: Die Frau neben mir hatte eine Cola auf ihrem ausgezogenen Tablett stehen, und mir kam ein Gedanke. Ich liebte Tomatensaft mit Cola. Meine Nachbarin sah allerdings aus, als könnte sie nicht einen einzigen Schluck zu sich nehmen; ab und zu hob sich ihre Hand und griff an das Netz am Sitz vor ihr, wie um die dezente braune Tüte zu ergreifen.
„Entschuldigung?“, fragte ich auf Englisch. Meine Zunge war diese Sprache nach einigen Jahren in Deutschland nicht mehr gewohnt und es haperte ein bisschen mit meinem britischen Akzent. Du fliegst schließlich nicht nach England, sondern nach Amerika, also mach dich nicht verrückt . „Wollen Sie die Cola noch trinken?“
Schmale braune Augen blickten mich grimmig an und ihr abruptes Kopfschütteln machte deutlich, wie egal ihr im Moment das Getränk war. Worte benötigten wir nicht.
„Darf ich sie haben?“
Es kam nur ein Nicken. Ich bedankte mich höflich, leerte die Hälfte meines Tomatensafts in einem Zug, goss die Cola hinein, nahm einen großen Schluck von meinem Flugzeug-Trunk und seufzte zufrieden.
Ein gurgelndes Würgen ertönte von meiner Nachbarin – und im nächsten Moment presste sie sich die Brechtüte an den Mund und übergab sich. Ein unangenehmes Erlebnis. Wenigstens schien es ihr geholfen zu haben, denn nach ungefähr einer Viertelstunde über dem scheinbar endlos weiten Atlantik entspannte sie sich endlich.
Noch eine halbe Stunde später wurde sie panisch, wie die meisten Passagiere, denn das Flugzeug geriet in heftige Komplikationen. Das gehört dazu , sagte ich mir und war nur ein klein wenig verspannt. Ich fühlte mich in etwa so gefährdet, wie ich mich bei strömendem Regen auf der Autobahn fühlen würde.
Bei der Landung in Los Angeles war es windig, und abgesehen von etwas zittrigen Beinen vom langen Sitzen ging es mir sehr gut. Ich freute mich seit zwei Jahren auf die Chance, im Ausland Bildende Kunst zu studieren und schließlich war ich vor zwei Monaten schon einmal hier gewesen, um die Universität in San Bernardino und einige Mitstudenten kennenzulernen, mit denen ich mir ein Zimmer in einem Wohnheim teilen würde – es gab also nichts, wovor ich mich fürchten musste. Ich wusste, was auf mich zu kam. Ohne meinen Onkel, der auch leidenschaftlich gern malte, wären diese teuren Flüge niemals möglich gewesen. Er war unendlich froh darüber, dass noch jemand in der Familie mit Farben und Pinsel umgehen konnte, und deshalb hatte er mir ein kleines Vermögen mitgegeben und meine Flüge bezahlt. Allein bei dem Gedanken an das Notfallgeld, wie ich es nannte, das auf meinem Konto lag, wurde mir ein bisschen schlecht. Ich könnte damit rund vier Mal nach Deutschland und wieder zurück reisen.
Das wiederum beruhigte mich. Ich vermisste meinen Bruder Noah jetzt schon. Nur auf meine Adoptivmutter Anna konnte ich leichten Herzens verzichten. Und mein Vater – den kannte ich nicht. Über meine leibliche Mutter wusste ich nur eines, nämlich ihren Namen: Katja. Laut Anna hatte mein Vater sie mit Katja betrogen. Aus diesem Fehler entstand ich, aber Feigling, der mein Vater war, ging er heim, nach Amerika, und ließ beide Frauen zurück – und meinen zwei Jahre älteren Bruder Noah. Katja war damals psychisch so labil gewesen, dass ich vom Jugendamt, noch vor der Flucht meines Vaters, an Anna und ihn weitergereicht wurde wie ein Stück Kuchen. Anna war natürlich wütend und verletzt, aber nicht in der Lage, ein Kind einfach so wegzugeben; und so kam es zu meiner Adoption. Ich weiß, es klingt seltsam. Und es war viel vorgefallen in Deutschland, was unser liebevolles, familiäres Verhältnis
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