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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Butyrka-Gefängnis, noch während der Untersuchung, hatte der diensthabende Kommandant geschrien: »Was fragt ihr nach der Verfassung? Eure Verfassung ist das Strafgesetzbuch.« Und der Kommandant hatte recht. Ja, das Strafgesetzbuch war unsere Verfassung. Das war lange her. Vor tausend Jahren. Das vierte Fach war Chemie. Note – drei.
    Ach, wie waren die gefangenen Lehrgangsteilnehmer begierig auf Wissen, wo ihr Leben auf dem Spiel stand. Wie waren die ehemaligen Professoren an medizinischen Hochschulen begierig darauf, die rettende Wissenschaft Ignoranten und Dummköpfen einzubleuen, die sich niemals für Medizin interessiert hatten – vom Lagerarbeiter Silajkin bis zum tatarischen Schriftsteller Min Schabaj ...
    Der Chirurg verzieht die dünnen Lippen und fragt:
    »Wer hat das Penizillin erfunden?«
    »Fleming!« Das antworte nicht ich, sondern mein Nachbar aus dem Kreiskrankenhaus. Die rötlichen Stoppeln sind rasiert. Die ungesunde bleiche Aufgeschwemmtheit der Wangen ist geblieben (er hat sich über die Suppe hergemacht – erfasse ich flüchtig).
    Ich war verblüfft von den Kenntnissen des rothaarigen Lehrgangsteilnehmers. Der Chirurg musterte den triumphierenden »Fleming«. Wer bist du, Nachtsanitäter? Wer bist du?
    ____
    »Was warst du denn in Freiheit?«
    »Ich bin Hauptmann. Hauptmann der Pioniertruppen. Zu Beginn des Kriegs war ich Chef eines befestigten Gebiets. Die Befestigungen hatten wir in Eile gebaut. Im Herbst einundvierzig, als der Morgennebel sich verzog, sahen wir plötzlich in der Bucht das deutsche Panzerschiff »Graf von Spee« . Das Panzerschiff schoß unsere Befestigungen aus nächster Nähe zusammen. Und ich bekam zehn Jahre.«
    »Wenn du es nicht glaubst, nimms als Märchen.« Ich glaube es. Ich kenne die Gepflogenheiten.
    ____
    Alle Lehrgangsteilnehmer lernten die Nächte hindurch, sie sogen das Wissen auf, absorbierten es mit aller Leidenschaft von zum Tode Verurteilten, denen man plötzlich die Hoffnung auf Leben gibt.
    Aber Fleming, der eine Unterredung mit der Leitung hatte, wurde fröhlicher, schleppte zum Unterricht in der Baracke irgendeinen Roman an und blätterte über einem Stück gekochtem Fisch, den Resten eines fremden Festmahls, nachlässig im Buch.
    Auf mein ironisches Lächeln sagte Fleming:
    »Ganz gleich – wir lernen schon drei Monate, und alle, die sich im Lehrgang gehalten haben, alle bekommen ihren Abschluß, alle kriegen ihr Diplom. Warum soll ich mich verrückt machen? Gibs zu!..«
    »Nein«, sagte ich. »Ich will lernen, Menschen zu heilen. Etwas Richtiges lernen.«
    »Etwas Richtiges – ist leben.«
    In dieser Stunde wurde klar, daß der Hauptmann nur Flemings Maske war, eine weitere Maske vor diesem bleichen Gefängnisgesicht. Nicht der Hauptmann selbst allerdings war die Maske – die Maske waren die Pioniertruppen. Fleming war Untersuchungsführer des NKWD im Hauptmannsrang. Wissen wurde abgeseiht, Tropfen für Tropfen angesammelt – über mehrere Jahre. Diese Tropfen maßen die Zeit wie eine Wasseruhr. Oder diese Tropfen fielen auf den kahlen Scheitel des Untersuchungshäftlings – die Wasseruhr der Leningrader Folterkammern der dreißiger Jahre. Sanduhren maßen die Zeit der Hofgänge der Häftlinge, Wasseruhren die Zeit der Geständnisse, die Zeit der Untersuchung. Das Eilige der Sanduhr, das Peinigende der Wasseruhr. Die Wasseruhren zählten nicht die Minuten, maßen nicht die Minuten ab, sondern die menschliche Seele, den menschlichen Willen, zerstörten ihn Tropfen für Tropfen, höhlten ihn wie einen Stein – wie im Sprichwort. Diese Untersuchungsführer-Folklore war sehr en vogue in den dreißiger, wenn nicht schon in den zwanziger Jahren.
    Tropfen um Tropfen wurden Hauptmann Flemings Worte zusammengetragen, und der Schatz erwies sich als kostbar. Für kostbar hielt ihn auch Fleming selbst – und ob!
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    »Weißt du, was das größte Geheimnis unserer Zeit ist?«
    »Was?«
    »Die Prozesse der dreißiger Jahre. Wie sie vorbereitet wurden. Ich war ja damals in Leningrad. Bei Sakowskij . Die Vorbereitung der Prozesse – das ist Chemie, Medizin, Pharmakologie. Unterdrückung des Willens mit chemischen Mitteln. Solche Mittel gibt es, soviel du willst. Und denkst du etwa, wenn es Mittel zur Unterdrückung des Willens gibt, wird man sie nicht anwenden? Die Genfer Konvention, ja?
    Über chemische Mittel zur Unterdrückung des Willens zu verfügen und sie in der Untersuchung, an der »inneren Front« nicht einzusetzen – das wäre schon allzu

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