Linna singt
er hinabfallen kann. Doch sein Gewicht beginnt auch sie dem Abgrund entgegenzuziehen. Mit einer Hand krallt sie sich an den Dachfirst, mit der anderen hält sie Tobias fest und rutscht immer gefährlicher in die Waagrechte. Sie liegt schon mehr auf dem Dach, als dass sie sitzt.
»Nicht loslassen, ich bin gleich bei dir … halt ihn fest, Maggie … Maggie!«
Aber es ist zu spät. Ihre Finger rutschen ab, Tobias ist zu schwer für sie. Ich habe mir solche Situationen immer anders vorgestellt. Länger. Viel länger. Es geht so schnell! Maggie lässt los und fast im selben Moment hören wir, wie Tobis Körper in den Schnee schlägt. Er hat nicht einmal Zeit zu schreien. Ehe Maggie hinterherpurzeln kann, werfe ich mich flach über sie und halte sie mit beiden Armen fest. Wie zwei Flundern liegen wir aufeinander. Es würde komisch aussehen, wenn die Lage nicht so entsetzlich ernst wäre.
»Ich hab ihn umgebracht. Ich hab ihn umgebracht! Ich habe einen Menschen umgebracht!«, kreischt Maggie. »Oh Gott, bitte nicht … bitte, lieber Gott …«
»Alles okay!«, tönt es vernehmlich aus dem Schnee. Es klingt, als stünde Tobias direkt neben uns. »Hab mich nicht verletzt!«
Nein, natürlich nicht, du Arschloch, denke ich zornig. Er ist in den Schneehaufen gefallen, genau wie ich es mir vorhin gedacht hatte. Von wegen Selbstmord. Maggie kichert schrill auf. Ja, Tobias lebt. Die Fallhöhe vom Dach zum Schneehaufen beträgt geschätzte anderthalb Meter. Selbst ein arthritischer Greis würde diesen Sturz ohne Knochenbrüche überleben.
»Wir gehen außen rum!«, verkünde ich den anderen. Es ist einfacher und weniger riskant, als übers Dach zurück zum Fenster zu klettern.
Maggie kann nicht aufhören zu kichern. Kichernd lässt sie sich hinter mir in den Schnee fallen, kugelt kichernd hinab auf die Terrasse und folgt mir kichernd durch die Stube auf den Dachboden. Tobi lassen wir links liegen, doch Maggie kann sich nicht beherrschen und verpasst ihm einen saftigen Tritt in den Hintern, als wir ihn auf dem Weg zur Tür überholen. Ebenfalls kichernd. Auch ich weiß nicht, ob ich fluchen oder in ihr Gackern einstimmen soll, als wir die Tür hinter uns zuziehen und die Jungs wieder auf ihren Plätzen sitzen. Es geht ihnen kaum anders. Doch vor allem sind wir sprachlos.
Wir könnten so viel reden und diskutieren und abwägen, wie wir wollen, was würde es ändern? Tobias ist keiner von uns. Ich glaube ihm sogar, dass er uns alle liebt. Er wird nicht der Einzige gewesen sein. Es mag viele Jugendliche mit leerem Herzen und zu viel Langeweile gegeben haben, für die wir ein strahlendes Mysterium waren. Denn wir waren mehr als eine Band. Es war Magie. Eine höhere Stufe. Was immer Tobi mit uns hätte anstellen wollen, er wäre niemals einer von uns geworden. Dazu fehlt ihm die Musik und eine Seele.
»Ein Song«, höre ich Maggie leise bitten. »Einen einzigen. Dann können wir meinetwegen für immer damit aufhören. Bitte, Linna.«
Sie spricht nur aus, was ich mit allen Sinnen fühle, seitdem wir wieder hier oben sind, in diesem warmen, dunklen Raum mit den Fellen und Kerzen und unseren Instrumenten. Wir brauchen die Musik. Wenn wir als Freunde und nicht als Feinde nach Hause fahren wollen, brauchen wir die Musik, und wir haben nur noch diese eine Nacht dafür.
Ich werfe Falk einen Hilfe suchenden Blick zu. Ich will und werde mich nicht dagegen sträuben, mit ihnen zu musizieren, aber ich bin noch nicht so weit zu singen. Mir fehlt das Vertrauen. Er nickt und zieht die Gitarre an seinen Bauch, um mit seinen Fingern zart die Saiten zu streifen und einen Akkord anzuschlagen, als wolle er sie fragen, ob sie damit einverstanden sei, gespielt zu werden.
Er wird an meiner Stelle singen. Ich weiß, welchen Song er auswählen wird. Keinen deutschen und auch keinen unserer früheren Titel. Was wir jetzt brauchen, ist sein weiches, verschliffenes, kaum verständliches Australo-Englisch und jenes Lied, mit dem auf der Fahrt in die Berge alles anfing und dessen Sentimentalität ich nicht ertragen konnte. Jetzt sehne ich mich nach ihr. Draw Your Swords von Angus und Julia Stone. Ich kenne es gut. Ich habe es jede Nacht im Schlaf gehört, wenn Falk wach auf seinem Bett saß, weil in Australien gerade die Sonne aufging, und es spielte. Wann immer ich später an diese Woche in den Bergen zurückdenke, wird diese Melodie meinen Kopf erfüllen und keiner der Songs von Mike Oldfield, die ich hier oben so oft gehört habe. Denn dieses Lied
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