Lippenstift statt Treppenlift
wichtigsten war es jetzt also bestimmt, sie zu beruhigen und abzulenken, dachte ich. Wenn sie ganz ruhig und entspannt ist, dann wird sie vielleicht wieder einigermaßen normal. Dachte ich. Und ich sagte: »Weißt du was, um die Tabletten kümmern wir uns einfach später. Und jetzt gehen wir am besten raus, irgendwo ein Eis essen!«
Beim Thema Essen kam Leben in meine Mutter, blitzschnell schlüpfte sie in ihre vertraute Rolle als nährende Mutter und Großmutter und ging zum Tagesgeschäft über: »Hast du Hunger? Willst du was essen? Eis habe ich keines, aber eine schöne Portion Spagetti kann ich dir kochen. Willst du vielleicht auch einen Salat?«, fragte sie mit Eifer.
Ich hatte bereits gegessen, fast dachte ich aber darüber nach, noch einmal etwas zu mir zu nehmen. Einfach, damit Mama sich dazusetzte und mitaß. In letzter Zeit hatte sie ziemlich abgenommen. Tatsächlich schlabberte die Jeans geradezu an ihr.
Früher war meine Mutter immer ein bisschen rundlich gewesen, obwohl sie sich eigentlich permanent auf Diät befand. Ihr beliebtester Spruch damals war: »Ich esse nichts und nehme ständig zu!« Mittlerweile hat er sich ins Gegenteil verkehrt: »Ich esse wie verrückt und nehme ständig ab!« Nur hatte ich langsam den Verdacht, dass sie eben nicht aß wie verrückt, sondern Mahlzeiten vergaß.
Daher kamen wahrscheinlich auch die nächtlichen Bauchschmerzen, die sie seit einiger Zeit plagten. Wegen dieser rätselhaften Bauchschmerzen hatte die Tremel sie sogar schon zum Kardiologen überwiesen, der aber nichts hatte finden können. Ich bin ganz fest der Meinung, bei den Bauchschmerzen handelt es sich um Hunger.
»Mama, willst DU nicht vielleicht etwas essen?«
»Ich habe heute schon unglaublich viel gegessen!«, sagte sie.
»Was denn?«
»Genug, mehr als genug.«
»Aber was?«, insistierte ich.
»Ich habe zum Beispiel mal ein ganzes Baguette zum Frühstück gegessen – ein ganzes, stell dir vor!«
Mal. Zum Beispiel. Bloß wann? Wenn überhaupt!
»Wir könnten zusammen einkaufen gehen. Frisches Baguette vielleicht. Und dann gehen wir ins Café zum Eisessen.«
»Ich bin pappsatt, ich bekomme mit Sicherheit kein Eis herunter, und ich brauche auch nichts!«, sagte Mama in bestimmtem Ton.
Na gut, dachte ich. Es ist ja noch was im Kühlschrank, den hatte ich erst vor zwei Tagen aufgefüllt, da hatte ich sie mit ihren beiden Enkelkindern besucht – meinem neunjährigen Sohn und seiner sechzehnjährigen Schwester. Jetzt könnte ich eigentlich wieder nach Hause fahren. Am nächsten Morgen sollte ich zu einer einwöchigen Geschäftsreise aufbrechen. Ich wollte noch packen und ein wenig Zeit mit Mann und Kindern verbringen.
Früher war ich mal Reisejournalistin. Mittlerweile bin ich eher Reiseredakteurin. Das bedeutet: Die Kollegen reisen, ich bearbeite ihre Artikel in der Redaktion. Jetzt, wo die Kinder älter werden, würde ich auch gern wieder öfter unterwegs sein. Meine Mutter allerdings wird auch älter, das hatte ich nicht bedacht. Und deswegen komme ich nach wie vor nur selten zum Reisen.
Ich wollte mich gerade verabschieden, da stand Mama plötzlich doch in Schuhen da (mit Absätzen! Und eindeutig etwas zu eng!), die schwarze, prall gefüllte Lederhandtasche geschultert, und sagte: »Na, dann gehen wir mal, oder?« Und: »Meinst du, ich brauche eine Jacke?« Anscheinend hatte sie ganz vergessen, dass sie erst nichts von meinem Vorschlag wissen wollte.
»Nein, Mama, eine Jacke ist viel zu warm!«, seufzte ich. »An deiner Stelle würde ich auch mindestens die Strumpfhose ausziehen, bevor wir gehen. Sonst schwitzt du dich noch tot!«
»Aber ich trage immer eine Strumpfhose!«, sagte Mama.
Früher trug sie nie Strumpfhosen im Spätsommer.
»Das ist doch viel zu warm!«
»Überhaupt nicht. Ich bin so daran gewöhnt – ich bemerke die Stumpfhose überhaupt nicht«, behauptete Mama.
Also dackelten wir los. Wobei »dackeln« wahrscheinlich nicht der richtige Ausdruck ist. Dackel können nämlich eine ziemliche Geschwindigkeit erreichen, es sind ja Jagdhunde. Wir hingegen schlichen langsam den Bürgersteig entlang.
Mama wäre eigentlich eine Kandidatin für einen Rollator, wegen des Rückenleidens – eine Wirbelsäulenverkrümmung, die ihr Schmerzen in den Beinen verursacht. Und wegen eines diffusen Schwindels, der sie seit Jahren immer wieder befällt. Da wäre es gut, wenn sie sich ab und an festhalten könnte. Sie könnte ihren Einkauf in den Rollator stellen und ihn schieben, statt
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