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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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beherrschen: »Nein, jetzt hat einer sie geklaut!«, sagte ich.
    »Wie bitte?!«
    »Nichts. Die Tasche steht natürlich noch da, hier ist doch weit und breit kein Mensch außer uns. Wer sollte sie also schon nehmen?«
    » WIE BITTE ?!« (Das war die Schwerhörigkeit.)
    »Die Tasche ist noch daaahaaa! Wer sollte sie schon klauen!«
    »Na wer wohl«, sagte Mama. »Ein Dieb natürlich!«
    »Was war das für ein schöner Nachmittag!«, sagte Mama, als wir schließlich wieder in der Wohnung ankamen, aber dann fiel ihr Blick auf die Tabletten auf dem Couchtisch, und die ganze Entspannung war flöten. Plötzlich ging es wieder nur noch um das Captopril, und dann das Captopril, und dann das Captopril. Da wurde mir klar, dass ich jetzt unmöglich einfach gehen und am nächsten Tag verreisen konnte. Und dass da auch niemand war, den ich um Hilfe bitten konnte, denn meine Schwester war auch gerade verreist, und mein Mann hatte schon mit seiner eigenen alten Mutter genug zu tun. Und mit unseren Kindern. Und natürlich mit seinem Job.
    Ich hatte also nur zwei Möglichkeiten: Geschäftsreise canceln. Oder …
    »Hör zu, Mama: Ich bring dich jetzt ins Krankenhaus. In diesem Zustand möchte ich dich nicht allein hier lassen.«
    »Gute Idee!«, sagte Mama ernst.
    Es gibt ja alte Leute, die sich grundsätzlich weigern, ins Krankenhaus zu gehen. Meine Schwiegermutter beispielsweise. Die würde selbst mit einem Splitterbruch oder einem Herzinfarkt alles tun, um dem Krankenhaus zu entgehen.
    Bei Mama dagegen habe ich immer den Eindruck, sie geht ganz gern ins Krankenhaus. Im Krankenhaus kann man ja immer sicher sein, dass der nächste Arzt nicht weit ist. Das beruhigt sie irgendwie.
    Für Klinikbesuche und ähnliche Anlässe hatte ich meiner Mutter schon vor einiger Zeit einen hübschen roten Rollkoffer geschenkt. Weil alle Gegenstände auf Rollen bei meiner Mutter im Generalverdacht stehen, nur etwas für alte Leute zu sein (egal, wie oft ich beteuere, dass heute jeder Mensch Rollkoffer verwendet), steckte das gute Stück aber noch unbenutzt in Plastikfolie, da pellte ich es nun heraus. Dann öffnete ich ihren großen Wandschrank.
    Darin offenbarte sich, dass sie seit etwa 1972 nichts mehr in die Kleidersammlung gegeben hatte. In Bezug auf Nachthemden ergab das insgesamt einen meterhohen Stapel – genug für ein ganzes Nonnenkloster oder alle Insassen eines mittelgroßen Altersheims. Wobei ich mich schon fragte, wie jemand mit einem Rückenleiden zu solch einer Menge derart akkurat gebügelter, bodenlanger Batistnachthemden kam. Für solche Reflektionen bestand nun aber keine Zeit, darum raffte ich die vier obersten zusammen und legte sie in den roten Koffer.
    »Viel zu wenig«, befand Mama, deshalb holte ich noch drei.
    »Wer weiß, wie lange ich dort bleiben muss«, erwiderte sie darauf und holte noch ein paar. Bis der Koffer schließlich fast überquoll von Nachthemden, so etwa zwanzig an der Zahl. Erst dann wurde sie ruhig. Dann packte ich noch alle ihre Medikamente in ein Seitenfach, inklusive Ebixa, dem unaussprechlichen aus der Küchenschublade. Dann gratulierte ich mir innerlich zu dem Kauf des Rollkoffers – wenn ich alles in Mamas Umhängereisetasche hätte transportieren müssen, hätte ich auch Rückenschmerzen bekommen. Und dann zogen wir los.
    Jetzt dämmerte es schon, und in der Notaufnahme saßen bereits ein älterer Herr mit Kreislaufproblemen, arabische Touristen mit einem fiebernden Teenager, ein gereizter Blinddarm, ein verstauchter Fuß und sieben oder acht betrunkene junge Männer in Tracht, die leicht verletzt auf ihre Lederhosen bluteten: Es war der erste Oktoberfestsamstag. Zum Glück hatten wir vorreserviert.
    Ein Klinikum ist natürlich kein Hotel. Trotzdem konnte ich Mama einbuchen, denn ich verfügte über Vitamin B: Beziehungen. Meine Freundin hatte früher in besagtem Krankenhaus gearbeitet, und sie hatte uns bereits telefonisch angekündigt, deshalb durften wir gleich durch zum Check-in.
    Dort erwartete uns das übliche Prozedere: das Aufnahmeformular.
    »Geburtsdatum?«, fragte die Schwester.
    »Waaas will sie?«, wandte sich Mama, die in großen Räumen mit Hintergrundgeräuschen noch schlechter hörte als sonst, an mich.
    »Mama, die Schwester braucht deine Daten für den Aufnahmebogen«, erklärte ich.
    »Weeen?«, fragte Mama.
    »Das Geburtsdatum, bitte«, wiederholte die Schwester, und Mama, die endlich verstanden hatte, sagte: »Neunzehnter oder zwanzigster Mai. Schreiben Sie einfach, was Sie

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