Lippenstift statt Treppenlift
alles schleppen zu müssen, und wenn sie unterwegs ermüdete, könnte sie sich einfach auf den Rollator setzen. So wie Abertausende andere alte Damen auch, die überall ganz munter und mobil mit ihren Rollatoren in der Stadt unterwegs sind.
Nur leider passen das Konzept Rollator und der Lebensinhalt Jünger-Aussehen nicht zusammen. Mama sagte immer, sie möchte lieber tot umfallen, als mit einem Rollator unterwegs zu sein. Diese Einstellung macht jeden Gang beschwerlich. So auch an jenem Tag: Spätestens nach hundert Metern musste meine Mutter sich immer wieder kurz setzen, zum Beispiel auf Bänke, Poller, kleine Mauern. Trotz der kleinen Ruhepausen kam sie furchtbar ins Schwitzen, nicht nur wegen der Anstrengung.
»So eine Hitze, unerträglich!«, stöhnte sie.
»Besonders in Strumpfhosen«, sagte ich.
»Das liegt nicht an der Strumpfhose, dass mir zu warm ist, sondern am Wetter«, giftete sie und warf mir einen Blick zu, als wünsche sie mir einen Kugelblitz an den Hals, und ich verkniff mir jeden weiteren Kommentar, damit sie sich nicht noch mehr aufregte.
Wir kauften Brot und ein paar Kleinigkeiten, und dann steckte ich auch noch zwei Eis aus der Truhe am Supermarkteingang in die Tüte. Auf dem Weg zurück bestand ich dann darauf, dass wir kurz Pause machten und das gerade erstandene Eis aßen, weil es ja Geldverschwendung wäre, es verkommen zu lassen.
Geldverschwendung ist bei meiner Mutter ein gutes Argument. Geld verschwendet sie grundsätzlich keines. Früher war sie großzügig, das Geld saß locker. Mit den Enkeln ist sie immer noch generös, mit sich selbst nicht mehr. Sie hat zwar genug Rente, trotzdem spart sie sich jeden Luxus vom Mund ab, und zwar wortwörtlich: Im Supermarkt kauft sie grundsätzlich nur Billigprodukte, solche, wo » NO NAME « oder »Ja!« aufgedruckt steht. Sie kauft nur billigstes Supermarktfleisch, eingeschweißte Ware, auf der orangefarbene Angebots-Aufkleber prangen, weil bereits das Verfallsdatum naht. Das Prinzip Bio geht total an ihr vorbei – hauptsächlich wegen des Preises.
»Wie soll sich zum Beispiel eine fünfköpfige Familie von Biofleisch ernähren, wenn ein einzelnes Hühnerbrüstchen vier Euro kostet?«
»Aber Mama, du bist doch gar keine fünfköpfige Familie. Ein Stückchen Biofleisch ab und an kannst du dir doch leicht leisten.«
»Nein danke«, sagt sie dann. »Ich hatte heute schon ein wunderbares Wiener Schnitzel aus dem Supermarkt. Weich wie Butter!«
Nur der Rinderwahn ist ihr noch absolut präsent. Rinderwahn ist zwar aus den Nachrichtensendungen völlig verschwunden, mittlerweile wird sogar grundsätzlich bezweifelt, dass er sich überhaupt auf den Menschen überträgt und mit der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit in irgendeiner Form in Verbindung steht. Doch meine Mutter hat nach wie vor entsetzliche Angst vor Rinderwahn. Darum hat sie seit 1993 kein Rindfleisch mehr gekauft: viel zu gefährlich.
Wir fanden eine ruhige Bank im Schatten, ich packte das Eis aus, und Mama sagte: »Möchtest du meines nicht mitessen? Ich schaffe es nicht, ich bin nämlich satt.«
Und dann passierte, was in letzter Zeit immer passiert, wenn man ihr etwas zu essen hinstellt: Das Eis verschwand in Sekundenschnelle in ihrem Mund. Noch nie hatte ich einen Menschen gesehen, der so blitzschnell ein Eis verzehrte.
Nach dem Eis brach ich Stücke von dem eben gekauften Baguette ab und belegte sie mit der frisch erstandenen Salami, dann scheibchenweise mit Käse, und alles verschwand in Rekordgeschwindigkeit im Mund meiner Mutter. Es war, als würde sie Lebensmittel wie Luft einatmen, und das bestärkte mich in meiner Theorie: Sie hatte mal wieder eine Zeit lang vergessen zu essen.
Schließlich inhalierte sie noch ein paar Oliven, direkt aus dem Glas, und dann sagte sie: »Da sieht man es mal wieder: Ich esse unglaubliche Mengen. Ich verstehe gar nicht, warum ich ständig abnehme!«
Nach dem kleinen Picknick saßen wir eine Weile im Park, der Himmel blitzte wie frisch poliert, eine sanfte Brise brachte die Pappeln zum Rauschen. Über der ganzen Szenerie herrschte friedliche Ruhe, und Mama machte sich furchtbare Sorgen um ihre Handtasche, die auf meiner Seite der Bank neben der Einkaufstüte stand, weil ich ihr das schwere Ding getragen hatte.
»Ist meine Tasche noch da?«, fragte sie alle paar Minuten mit Panik in der Stimme. Vier Mal schaffte ich es, ganz ruhig mit »Klar, deine Tasche steht hier neben mir«, zu antworten. Erst beim fünften Mal konnte ich mich nicht mehr
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