Lisa Kleypas
aus.
Mark und
seine Geschwister waren in einer Familie aufgewachsen, in der die Eltern einen
Zermürbungskrieg gegeneinander führten und die Kinder dabei für ihre Zwecke
manipulierten. Infolgedessen waren die drei Brüder Mark, Sam und Alex heilfroh
gewesen, eigene Wege gehen zu können, kaum dass sie erwachsen waren.
Victoria
hingegen hatte sich immer die enge Beziehung und den Zusammenhalt gewünscht,
die ihre Familie ihr nie hatte bieten können. Beides hatte sie als
alleinerziehende Mutter für Holly gefunden und war glücklich damit.
Aber eine
unglückliche halbe Drehung am Lenkrad und ein schlüpfriges Stück nasser Asphalt
waren ihr zum Verhängnis geworden. Ihr Wagen war außer Kontrolle geraten, und
Victorias Leben hatte grausam früh geendet.
Sie hatte
in dem Ordner mit ihrem Testament einen verschlossenen Briefumschlag
hinterlassen, der an Mark adressiert war. Darin stand:
Niemand
außer Dir kommt als Vormund infrage. Holly kennt weder Sam noch Alex. Ich
schreibe dies in der Hoffnung, dass Du es nie lesen musst, aber falls doch:
Kümmere Dich um meine Tochter, Mark! Steh ihr bei! Sie braucht Dich. Mir ist
klar, wie überwältigend Dir diese Verantwortung vorkommen muss, und es tut mir
leid. Ich weiß, dass Du Dir das nie gewünscht hast. Aber Du kannst es.
Du wirst
mit allem zurechtkommen.
Zermartere
Dir nicht den Kopf, wie Du das anstellen sollst. Hab sie einfach lieb! Der
Rest ergibt sich von allein.
»Du
willst sie wirklich
zu dir nehmen?« Sam hatte die Frage am Tag der Beerdigung gestellt, nach
einem Empfang in Victorias Haus. Es war ein unheimliches Gefühl, sich in
diesem Haus aufzuhalten. Alles war noch so, wie sie es hinterlassen hatte. Die
Bücher im Regal, ein Paar Schuhe achtlos hingeworfen auf dem Boden der Abstellkammer,
ein Lippenstift auf der Ablage unter dem Badezimmerspiegel.
»Natürlich
nehme ich sie zu mir«, antwortete Mark. »Was bleibt mir denn sonst
übrig?«
»Was ist
mit Alex? Er ist verheiratet. Warum hat Vick ihre Tochter nicht ihm und Darcy
anvertraut?«
Mark warf
ihm einen vielsagenden Blick zu. Die Ehe ihres
jüngsten Bruders ähnelte einem virenverseuchten Computer. Selbst im
abgesicherten Modus liefen darauf Programme, die auf den ersten Blick harmlos
wirkten, aber im Hintergrund Übles anrichteten.
»Hättest du
den beiden dein Kind anvertraut?«, fragte Mark.
Langsam
schüttelte Sam den Kopf. »Vermutlich nicht.«
»Also sind du und ich alles,
was Holly hat.«
Sam musterte
ihn misstrauisch. »Du gehst hier eine Verpflichtung ein, nicht ich. Es
hat schon seinen Grund, warum Vick nicht mich zum Vormund bestimmt hat. Ich
kann nicht mit Kindern umgehen.«
»Trotzdem
bist du Hollys Onkel.«
»Ja, ihr
Onkel. Meine Verantwortung beschränkt sich darauf, schlechte Witze über
Körperfunktionen zu reißen und bei Familienfesten zu viel zu trinken. Ich bin
ganz und gar kein väterlicher Typ.«
»Das bin
ich auch nicht«, gab Mark finster zurück. »Aber wir müssen es versuchen.
Es sei denn, wir wollen sie in eine Pflegefamilie geben.«
Sam
runzelte die Stirn und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. »Wie steht
Shelby zu dieser Sache?«
Bei der
Erwähnung seiner Freundin schüttelte Mark den Kopf. Sie war Innenarchitektin,
und sie waren einander begegnet, als sie die Inneneinrichtung des Luxushauses
eines Freundes in Griffin Bay geplant hatte. »Ich gehe erst seit ein paar
Monaten mit ihr. Entweder sie kommt damit zurecht, oder sie lässt mich sitzen.
Die Entscheidung überlasse ich ihr. Und ich werde sie nicht darum bitten, mir
zu helfen. Ich trage die Verantwortung. Und du auch.«
»Vielleicht
kann ich manchmal den Babysitter spielen. Aber zähl nicht allzu sehr auf meine
Hilfe. Ich habe alle meine Rücklagen in mein Weingut gesteckt.«
»Obwohl ich
dir geraten hatte, das nicht zu tun, du Genie.«
Sam senkte
die Lider über den Augen, die so blaugrün wie die seines Bruders waren. »Wenn
ich auf deine guten Ratschläge hören würde, müsste ich ja deine Fehler wiederholen,
statt meine eigenen zu machen.« Er stockte. »Wo bewahrt Vick eigentlich
ihren Schnaps auf ?«
»In der
Speisekammer.« Mark ging zu einem Schrank, kramte zwei Gläser heraus und
gab Eis hinein.
Sam
durchstöberte die Speisekammer. »Schon irgendwie komisch – wir trinken ihren
Schnaps, und sie ist ... tot.«
»Sie wäre
die Erste, die uns dazu auffordern würde.«
»Vermutlich
hast du recht.« Sam kam mit einer Flasche Whiskey zurück an den Tisch.
»Hatte sie eine
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