Lisa Kleypas
Lebensversicherung?«
Mark
schüttelte den Kopf. »Schon, aber sie hat die Prämien nicht bezahlt.«
Sam
musterte ihn besorgt. »Ich schätze, du wirst das Haus zum Verkauf
anbieten?«
»Ja. Aber
ich glaube nicht, dass es etwas einbringen wird. Der Immobilienmarkt gibt
zurzeit nicht viel her.« Mark schob seinem Bruder sein Glas hin. »Nicht
knausern, bitte.«
»Keine
Bange.« Sam füllte die Gläser fast bis zum Rand. Dann setzten sie sich
wieder einander gegenüber, stießen schweigend miteinander an und tranken. Der
Whiskey war gut, floss glatt durch Marks Kehle und füllte seinen Bauch mit
angenehmer Wärme.
Mark war
überrascht, wie gut es ihm tat, mit seinem Bruder zusammenzusitzen und zu
reden. Es sah ganz so aus, als stünden die Auseinandersetzungen ihrer Kindheit
– die ständigen Streitereien und kleineren Vertrauensbrüche –
ihnen nicht mehr im Weg. Jetzt waren sie erwachsen. Sie konnten vielleicht
sogar Freunde werden, was ein Ding der Unmöglichkeit gewesen war, solange ihre
Eltern noch gelebt hatten.
Alex
hingegen konnte man gar nicht nah genug kommen, um zu entscheiden, ob man ihn
mochte oder verabscheute. Er und seine Frau Darcy waren zu der Beerdigung
erschienen. Auf dem anschließenden Empfang waren sie nur etwa fünfzehn Minuten
geblieben und dann gegangen. Sie hatten kaum ein Wort mit jemandem gewechselt.
»Sie sind
schon weg?«, hatte Mark ungläubig gefragt, als ihm ihre Abwesenheit
aufgefallen war.
»Wenn du
gewollt hättest, dass sie länger bleiben«, meinte Sam, »hättest du die
Trauerfeier im Nordstrom in Seattle abhalten sollen.«
Zweifellos
fragten sich die Leute, wie es möglich war, dass die drei Brüder auf San Juan,
einer Insel mit gerade mal achttausend Einwohnern, wohnten und doch so wenig
miteinander zu tun hatten.
Alex lebte
mit seiner Frau in Roche Harbor auf der Westseite der Insel. Wenn er nicht
gerade für sein Immobilienunternehmen arbeitete, führte er Darcy zu gesellschaftlichen
Ereignissen nach Seattle aus. Mark seinerseits hatte gut in der kleinen
Kaffeerösterei zu tun, die er in Friday Harbor gegründet hatte. Sam, der sich
fast ständig in seinem Weingut aufhielt und dort seine Rebstöcke hegte und
pflegte, fühlte sich der Natur weit stärker verbunden als den Menschen.
Aber sie
hatten eines gemeinsam: ihre Liebe zu San Juan. Sie gehörte zu einem Archipel
von beinahe zweihundert Inseln im Staate Washington, von denen einige auch in
den Bezirken Whatcom und Skagit lagen. Die Nolans hatten ihre Kindheit im
Regenschatten der Olympic Mountains verbracht, in einer Gegend, die gut vom
grauen Klima des amerikanischen Nordwestens abgeschirmt war.
Sie waren
in der salzigen Meeresluft groß geworden, hatten beinahe ständig den Schlick
des feuchten Bodens an den bloßen Füßen gehabt. Sie genossen die milden
Morgenstunden, die klaren Tage unter blauem Himmel und die schönsten Sonnenuntergänge
der Welt. Nichts war faszinierender als der Anblick der flinken Wasserläufer,
die zwischen den Wellen umherhuschten. Oder dem der Weißkopfseeadler, die am
Himmel kreisten und sich auf Beute stürzten. Oder dem Tanz der Schwertwale,
deren glatte, geschmeidige Körper auf- und wieder abtauchten, deren
Rückenflossen die Salish Sea durchschnitten, während sie Jagd auf die
wandernden Lachse machten.
Die Brüder
hatten jeden Quadratzentimeter der Insel erkundet, hatten auf den vom Wind
zerklüfteten Hängen über der Küste, in den düsteren Schatten der Wälder und auf
den Wiesen herumgetollt, auf denen Wildblumen mit faszinierenden Namen blühten:
Schokoladenlilie, Sternschnuppe, Meeresröte. Kein Gewässer, kein Fleckchen
Erde, kein Stück Himmel war auch nur annähernd so vollkommen wie San Juan.
Obwohl sie
alle auf verschiedene Colleges gegangen waren und versucht hatten, sich
woanders heimisch zu fühlen, hatte die Insel sie immer wieder zurückgelockt.
Sogar Alex, der nüchterne, kalte, ehrgeizige Alex, war zurückgekommen.
Hier kannte
man noch die Bauern, deren Produkte man aß, und den Typen, der die Seife
herstellte, mit der man sich wusch. Man grüßte die Besitzer der Restaurants,
die man besuchte, mit Vornamen, und konnte gefahrlos per Anhalter
unterwegs sein, weil die freundlichen Inselbewohner gern jeden mitnahmen, der
gerade eine Mitfahrgelegenheit brauchte.
Victoria
hatte als einziges Familienmitglied etwas gefunden, für das es sich lohnte,
San Juan zu verlassen. Sie hatte sich in die Glastürme und Häuserschluchten von
Seattle verliebt, in das
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