Lisa Kleypas
Kapitel 1
Bevor seine Schwester starb, führte Mark
Nolan das typische ruhelose Leben eines Junggesellen und pflegte ein eher gleichgültiges Verhältnis
zu seiner Nichte Holly. Er empfand vage Zuneigung, hatte aber keine echte
Beziehung zu ihr. Sie sahen einander nur auf Familienfesten. Zu ihren
Geburtstagen sowie zu Weihnachten schenkte er ihr immerhin stets etwas, meistens
waren es Gutscheine. Das war das Äußerste, an mehr Kontakt war Mark nie
interessiert.
Aber das
änderte sich grundlegend, als seine Schwester Victoria an einem regnerischen
Abend bei einem Autounfall auf der Interstate 95 in Seattle ums Leben kam. Sie
hatte nie ein Testament erwähnt oder über ihre Zukunftspläne für Holly
gesprochen. Mark wusste also nicht, was jetzt aus Vicks sechsjähriger Tochter
werden sollte. Seine Schwester war nicht verheiratet gewesen, und sie hatte
niemandem verraten, wer Hollys Vater war, nicht einmal ihren engsten Freunden.
Mark war sich nahezu völlig sicher, dass sie auch dem Vater selbst nie von
seiner Tochter erzählt hatte.
Als
Victoria seinerzeit nach Seattle gezogen war, hatte sie sich einer sehr
unkonventionellen Clique angeschlossen, darunter vor allem Musiker und andere
Künstler. Daraus ergab sich eine Reihe kurzer Affären, die Victoria zunächst
das bunte künstlerische Ambiente boten, nach dem sie sich gesehnt hatte.
Schließlich aber musste sie sich eingestehen, dass ein erfülltes Privatleben
allein nicht ausreichte. Man brauchte auch ein regelmäßiges Einkommen.
Also bewarb
sie sich bei einem Softwareunternehmen und bekam eine Stelle in der
Personalabteilung. Die Firma zahlte gut und erwies sich auch bei den
Sozialleistungen als großzügig. Leider musste Victoria ungefähr zeitgleich
feststellen, dass sie schwanger war.
Als Mark
sie nach dem Vater fragte, meinte sie nur: »Es ist besser für alle Beteiligten,
wenn er aus dem Spiel bleibt.«
»Du
brauchst aber jemanden, der dir hilft«, protestierte Mark. »Der Typ sollte
wenigstens seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommen. Ein Kind
großzuziehen ist nicht gerade billig.«
»Ich komme
allein klar.«
»Vick ...
Ein Leben als alleinerziehende Mutter – das würde ich niemandem wünschen!«
»Sei
ehrlich. Du schiebst doch schon Panik, wenn du überhaupt nur an Kinder denkst.
Ich verstehe das, sehr gut sogar. Wenn man bedenkt, wie unsere Kindheit ausgesehen
hat ... Aber ich will dieses Baby, und ich werde ihm eine gute Mutter
sein.«
Sie hatte
ihr Versprechen gehalten. Victoria hatte sich als sehr verantwortungsbewusste
Mutter erwiesen. Sie war geduldig und lieb zu ihrem einzigen Kind. Sie schenkte
Holly Geborgenheit und Schutz, ohne sie zu sehr zu behüten. Woher sie ihre
mütterlichen Fähigkeiten nahm, war Mark ein Rätsel. Es konnte sich nur um
Instinkte handeln, denn eins stand fest: Von ihren Eltern hatte sie das nicht
gelernt.
Mark wusste
ohne jeden Zweifel, dass er über keinerlei Vaterinstinkte verfügte. Deshalb
warf es ihn völlig aus der Bahn, als er erfuhr, dass er nicht nur seine
Schwester verloren, sondern obendrein ein Kind bekommen hatte.
Nie hätte
er erwartet, zu Hollys Vormund bestimmt zu werden. Er kannte seine Fähigkeiten
recht genau, und er hatte keine Angst, unbekannte Situationen zu meistern. Aber
sich um ein Kind kümmern zu müssen ... Das überstieg seine Vorstellungskraft
bei Weitem.
Wenn Holly
ein Junge gewesen wäre, hätte er sich vielleicht eine klitzekleine Chance
eingeräumt. Jungen waren nicht sonderlich schwer zu durchschauen. Das weibliche
Geschlecht hingegen war Mark stets ein Rätsel geblieben.
Schon vor
langer Zeit hatte er akzeptiert, dass Frauen einfach schwierig waren. Sie sagten
Dinge wie: »Wenn du nicht von allein drauf kommst, werde ich es dir auch nicht
verraten.« Sie bestellten nie selbst ihr Dessert, und wenn sie einen
fragten, was sie anziehen sollten, wählten sie am Ende immer etwas ganz anderes
als das, was man ihnen vorgeschlagen hatte.
Obwohl Mark
also niemals von sich behaupten würde, Frauen zu verstehen, betete er sie an.
Er liebte die Überraschungen, die sie ihm bereiteten, ebenso wie ihre undurchschaubaren
und faszinierenden Stimmungsschwankungen.
Aber wenn
es darum ging, eines dieser seltsamen Wesen aufzuziehen ... Um Himmels willen,
nein! Das Risiko war viel zu groß. Niemals könnte er einem Mädchen ein gutes
Vorbild sein, geschweige denn eine Tochter auf die Fallstricke der modernen
Gesellschaft vorbereiten. Dafür reichten seine Fähigkeiten einfach nicht
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