Lisa Kleypas
Lust zu reden. »Kinder stellen viel zu viele
Fragen«, sagte sie und ging zurück in die Küche.
Schon bald erfuhr Lucy das Wort für die
Krankheit ihrer fünfjährigen Schwester: Meningitis. Und sie erfuhr auch, was es
bedeutete: Wenn Alice wieder nach Hause kam, würde sie sehr schwach und müde
sein. Dann musste Lucy ein braves Mädchen sein, helfen, ihre Schwester zu pflegen,
und durfte keinen Unsinn anstellen. Außerdem durfte sie nicht mit Alice
streiten oder sie irgendwie aufregen.
»Jetzt
nicht«, lautete die Antwort, die Lucy am häufigsten von ihren Eltern zu
hören bekam.
Der lange ruhige
Sommer erwies sich als trostlose Abkehr von der üblichen Routine. Es gab keine
Spielnachmittage mit Freunden, keine Zeltlager, keine Ausflüge. Die Krankheit
machte Alice zum Mittelpunkt des Familienuniversums, um den alle anderen wie
instabile Planeten in ängstlichen Umlaufbahnen kreisten.
In den
Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus sammelten sich Unmengen von
Spielzeug und neuen Büchern in Alices Zimmer. Sie durfte beim Essen aufstehen
und um den Tisch herumlaufen und wurde nie aufgefordert, »bitte« oder
»danke« zu sagen. Alice war nie zufrieden, weder mit dem größten Stück vom
Kuchen, noch damit, länger aufbleiben zu dürfen als die anderen Kinder. So
etwas wie zu viel gab es nicht für ein Mädchen, das ohnehin schon viel zu viel
hatte.
Die Marinns
lebten in Seattle, im Stadtteil Ballard, in dem ursprünglich vor allem
skandinavische Einwanderer gelebt hatten, die auf den Lachsfangbooten und in
den Fischfabriken gearbeitet hatten. Obwohl Ballard im Laufe der Zeit gewachsen
war und sich weiterentwickelt hatte, sodass die Skandinavier längst nicht mehr
die größte Bevölkerungsgruppe bildeten, war das skandinavische Erbe immer noch
allgegenwärtig. Lucys Mutter kochte nach Rezepten ihrer skandinavischen
Vorfahren: Graved Lachs, kalt mit Salz, Zucker und Dill gebeizter Lachs.
Svinemorbrad med Svedsker, mit Ingwer-Backpflaumen gefüllter
Schweinerollbraten. Krumkake, knusprige Kardamom-Waffeln, die über dem Stiel
eines Holzlöffels zu perfekten Waffeltüten geformt wurden. Lucy half ihrer
Mutter gern in der Küche, vor allem weil Alice sich nicht fürs Kochen
interessierte und deshalb nie dabei störte.
Der Sommer
ging, der Herbst kam, die Schule fing wieder an, und die Situation zu Hause
blieb unverändert. Alice ging es wieder gut, und doch hielt sich die Familie
immer noch an die Regeln, die während ihrer Krankheit gegolten hatten: Reg sie
nicht auf. Wenn sie etwas will, lass sie.
Als Lucy
sich deshalb beklagte, fuhr ihre Mutter sie so heftig an wie nie zuvor.
»Du
solltest dich schämen, so neidisch zu sein! Deine Schwester wäre beinahe
gestorben. Sie hatte schreckliche Schmerzen. Du hast sehr, sehr großes Glück,
dass du das nicht durchmachen musstest.«
Noch Tage
danach quälten Lucy Schuldgefühle. Sie kamen immer wieder hoch wie
Fieberschübe. Bevor ihre Mutter sie so angefahren hatte, war Lucy gar nicht
klar gewesen, was an ihr nagte. Jetzt wusste sie es: Neid. Und obwohl sie keine
Ahnung hatte, wie sie dieses Gefühl loswerden sollte, war ihr klar, dass sie
niemals darüber reden durfte.
In der
Zwischenzeit konnte Lucy nur darauf warten, dass alles wieder so wurde wie
früher. Aber das geschah nicht. Und obwohl ihre Mutter behauptete, ihre beiden
Töchter gleichermaßen zu lieben, nur auf unterschiedliche Weise, schien es
Lucy, als liebe sie Alice nicht nur anders, sondern eben mehr.
Lucy betete
ihre Mutter an. Sie hatte immer tolle Ideen, wie man sich an Regentagen
beschäftigen konnte, und sie hatte nie etwas dagegen, wenn Lucy mit ihren hochhackigen
Schuhen feine Dame spielen wollte. Hinter der Ausgelassenheit ihrer Mutter
schien sich jedoch eine geheimnisvolle
Traurigkeit zu verbergen. Hin und wieder ertappte Lucy sie dabei, dass sie
irgendwo saß und verloren ins Leere starrte.
Manchmal
schlich Lucy sich am frühen Morgen ins Elternschlafzimmer und kroch zu ihrer
Mutter unter die Decke. Dann kuschelten sie miteinander, bis Lucys nackte Füße
sich wieder aufgewärmt hatten. Ihr Vater ärgerte sich jedes Mal, wenn er Lucy
mit im Bett entdeckte, und er grummelte sie an, sie solle in ihr Zimmer
verschwinden.
»Nur noch
ein Weilchen«, murmelte ihre Mutter dann und schlang ihre Arme fest um
Lucy. »Ich mag es, den Tag so zu beginnen.« Und Lucy kuschelte sich noch
dichter an sie.
Es gab aber
immer wieder Rückschläge, wenn es Lucy nicht gelang, ihre
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