Lisa Kleypas
Mutter
zufriedenzustellen. Zum Beispiel wenn die Lehrerin ihr einen Tadel mitgab,
weil Lucy sich während des Unterrichts unterhalten hatte. Oder wenn sie eine
schlechte Note für eine Mathearbeit bekam oder nicht genug am Klavier geübt
hatte. Dann reagierte ihre Mutter abweisend und verschlossen. Lucy verstand
nie, warum sie das Gefühl hatte, sich alles verdienen zu müssen, was Alice
einfach so bekam. Nach ihrer beinah tödlichen Erkrankung wurde Alice mit
größter Nachsicht behandelt und nach Strich und Faden verwöhnt. Sie hatte
schreckliche Manieren, fiel jedem ins Wort, spielte bei den Mahlzeiten mit dem
Essen herum, riss anderen Dinge aus den Händen, und ihre Eltern ignorierten das
alles einfach.
Eines
Abends, als die Marinns ausgehen und ihre Töchter einem Babysitter überlassen
wollten, heulte und schrie Alice solange herum, bis sie um des lieben Friedens
willen ihre Verabredung zum Essen absagten und zu Hause blieben. Sie ließen
sich Pizza kommen und aßen sie am Küchentisch, beide noch ausgehfein angezogen.
Der Schmuck ihrer Mutter funkelte und glitzerte im Licht der Küchenlampe.
Alice nahm
sich ein Stück Pizza und verschwand damit im Wohnzimmer, um sich einen
Trickfilm anzusehen. Lucy nahm daraufhin ihren Teller und wollte ihr ins
Wohnzimmer folgen.
»Lucy«,
sagte ihre Mutter, »du bleibst am Tisch, bis du fertig bist mit essen.«
»Aber Alice
isst im Wohnzimmer.«
»Sie ist
noch zu klein, um das zu verstehen.«
Überraschenderweise
mischte ihr Vater sich ein. »Sie ist nur zwei Jahre jünger als Lucy, und soweit
ich mich entsinne, durfte Lucy nie beim Essen herumwandern.«
»Alice hat
immer noch nicht wieder das Gewicht erreicht, das sie vor der Meningitis
hatte«, gab ihre Mutter scharf zurück. »Lucy, komm sofort an den Tisch
zurück.«
Es war so
unfair, dass es Lucy den Hals zuschnürte. Sie trug so langsam wie möglich ihren
Teller an den Küchentisch zurück und fragte sich dabei, ob ihr Vater wohl zu
ihren Gunsten eingreifen würde. Aber er schüttelte nur den Kopf und schwieg.
»Lecker«,
sagte Lucys Mutter fröhlich und biss in ihre Pizza, als handele es sich um eine
besondere Delikatesse. »Darauf hatte ich gerade richtig Appetit. Mir war so gar
nicht nach Ausgehen. Es ist ja viel schöner, gemütlich zu Hause zu
sitzen.«
Lucys Vater
sagte nichts dazu. Er aß seine Pizza auf, stellte seinen leeren Teller in die
Spüle und verschwand in seinem Arbeitszimmer, um zu telefonieren.
»Meine Lehrerin hat gesagt, ich soll dir
das geben«, erklärte Lucy und hielt ihrer Mutter einen Zettel hin.
»Nicht
jetzt, Lucy. Ich bin dabei, das Essen vorzubereiten.« Cherise Marinn schnitt
Sellerie auf einem Holzbrett. Das Messer teilte die Stangen in kleine u-förmige
Stücke. Da Lucy geduldig wartend stehen blieb, warf ihre Mutter ihr einen Blick
zu und seufzte. »Erzähl mir einfach, worum es geht, Süße.«
»Anweisungen
für ein Wissenschaftsreferat. Wir haben drei Wochen Zeit, es
auszuarbeiten.«
Lucys
Mutter hatte das Ende der Selleriestange erreicht, legte das Messer weg und
griff nach dem Zettel. Sie runzelte die Stirn, als sie ihn las. »Das sieht
nach einem zeitraubenden Projekt aus. Müssen alle Schüler daran teilnehmen?«
Lucy
nickte.
Ihre Mutter
schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, diese Lehrer wüssten, was sie den Eltern
damit zumuten. Wie viel Zeit solche Aktivitäten doch kosten!«
»Du musst
ja nichts tun, Mommy. Ich soll die ganze Arbeit machen.«
»Aber
irgendwer muss mit dir losziehen und die benötigten Materialien kaufen.
Außerdem muss jemand dabei sein, wenn du deine Experimente machst, und dir
helfen, dich auf die Präsentation vorzubereiten.«
Lucys Vater
betrat die Küche. Wie immer nach einem langen Arbeitstag wirkte er müde und
abgespannt. Philipp Marinn lehrte Astronomie an der Universität Washington
und arbeitete nebenher als Berater für die NASA. Deshalb wirkte es öfter so,
als würde er sein Zuhause nur gelegentlich besuchen, statt dort zu leben. An
den Abenden, an denen er es tatsächlich schaffte, rechtzeitig zum Abendessen
nach Hause zu kommen, mussten seine Frau und seine beiden Töchter trotzdem oft
allein essen, weil er stundenlang mit Kollegen telefonierte. Er wusste weder,
wie die Freundinnen, Lehrer und Sporttrainer der Mädchen hießen, noch, wie ihr
Stundenplan aussah. Deshalb war Lucy auch sehr überrascht von dem, was ihre Mutter
als Nächstes sagte.
»Lucy
braucht deine Hilfe bei ihrem wissenschaftlichen Schulprojekt. Ich habe
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