Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
keine Menschenfresser»–solche Scherze sprechen für eine gut funktionierende Verdrängung der deutschen Verbrechen.
Schließlich geht der Schlager auch in die Offensive, wenn er die Liebesfähigkeit der Deutschen betont («doch wir küssen um so besser») und den Siegermächten die kulturelle Überlegenheit Deutschlands erklärt: «Selbst Goethe stammt aus Trizonesien, / Beethovens Wiege ist bekannt. / Nein, sowas gibt’s nicht in Chinesien, / darum sind wir auch stolz auf unser Land.» Im Angesicht der Krise und der Herausforderung, sich gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus zu verhalten, wird auf ein bekanntes Muster deutscher Identitätsbildung zurückgegriffen, das Deutschlands Bedeutung aus seinen ästhetisch-intellektuellen Leistungen erklärt. Unpolitisch war dieses Muster allerdings nie, wie auch hier der Überlegenheitsgestus gegenüber «Chinesien» beweist.
Ein anderes und auf Dauer massentauglicheres Modell formuliert der außerordentlich erfolgreiche Schlager «Der Theodor im Fußballtor» (1950). In diesem von Kurt Feltz geschriebenenund durch Theo Lingen berühmt gewordenen Lied wird behauptet, dass die gemeinsame Begeisterung für den Sport gesellschaftliche Gegensätze überbrücken könne: «Ob du darüberstehst / ob du darunterstehst / du hast den Fußball / und du hast deinen Sportverein.» Das Stadionerlebnis schafft eine soziale Inklusion, die interessanterweise gegen das Rassedenken der jüngsten Vergangenheit gesetzt wird: «Du bist kein Übermensch / du bist kein Untermensch / du bist ein Sportsmann / und du hast deinen Sportverein. / Ob der nun vorne liegt / ob der nun hinten liegt / du wirst als Sportsmann / bei jedem Spiel zugegen sein.» Damit ist ein Weg gewiesen, der auf Abgrenzungen und Aggressionen nach innen oder außen verzichtet. Im Modus des Spiels und der Körperästhetik findet man gelungenes Leben. In einer offenen Gesellschaft, die bewusst auf normative Vorgaben für die Formulierung von Lebenssinn verzichtet, wurde ein solcher Weg nie allgemeingültig, erwies sich aber doch bis in die Gegenwart hinein, bis zum «Sommermärchen» der Fußballweltmeisterschaft 2006, als erfolgreich.
Die Geschichte des Schlagers führt vor, wie sich Mentalitäten in der Entwicklung der Bundesrepublik verändern. Wenn sich mit der starken wirtschaftlichen Dynamik, die bis in die frühen Siebzigerjahre anhielt, ein ökonomisches Selbstbewusstsein entwickelt, dann schreibt wiederum Kurt Feltz mit dem «Konjunktur Cha-Cha» 1960 den passenden Text dazu:
Gehn’ Sie mit der Konjunktur,
gehn’ Sie mit auf diese Tour,
nehm’ Sie sich Ihr Teil, sonst schäm’ Sie sich
und später gehn’ Sie nicht zum großen Festbankett.
Gehn’ Sie mit der Konjunktur,
gehn’ Sie mit auf diese Tour,
sehn’ Sie doch, die andern stehn schon dort
und nehm’ die Creme schon fort beim großen Festbankett.
Das Lied dient erkennbar der Einübung marktwirtschaftlicher Verhaltensweisen. Es erklärt das Prinzip der freien Konkurrenz, und es behauptet, dass eine kapitalistisch organisierte Wirtschaft das gesamte Denken und Fühlen der Menschen bestimmt:Den «inneren Wert» erhält ein Mensch dann, wenn er «Straßenkreuzer» fährt (etwa den Opel «Kapitän»). Überall herrschen die Gesetze der Evolution, die das Individuum zwingen, nur sich «selber lieb» zu haben. Dazu gehört auch, dass man sich nützliches Wissen verschafft, etwa indem man eine Freundin, die mit dem «Boss von der Bank» essen geht, um das Einholen von Insider-Tipps für Aktienkäufe bittet. Dabei hält das Lied die Balance von Kritik und Zustimmung, denn es fordert zum Tanzen in jenen Verhältnissen auf, die es gleichzeitig verspottet: «Oh jo to ho jo to hoo c’est la vie ja».
2. Das politische Jahrzehnt
Von der «Blechtrommel» bis zum «Kursbuch»
«Dieser Autor greift nichts an, beweist nichts, demonstriert nichts, er hat keine andere Absicht, als seine Geschichte mit der größten Genauigkeit zu erzählen»: Mit diesen Worten stellte Hans Magnus Enzensberger 1959 in einer Rezension
Günter Grass
(*1927) und dessen Roman «Die Blechtrommel» vor. In den folgenden Jahrzehnten ist Grass zum wichtigsten Repräsentanten der deutschen Literatur geworden. Immer wieder hat er sich in gesellschaftliche Debatten eingeschaltet, hat die Nähe zur Politik gesucht und Stellungnahmen verfasst, die mit großer Wahrheitsgewissheit formuliert waren. 2006 schließlich wurde er selbst zum Gegenstand einer heftigen Debatte, in der es um seine
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