Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
und Romanen, wie dies Andersch und Böll praktizieren, am deutlichsten schließlich in den Wahrnehmungs- und Sprachexperimenten Schmidts. Gleichzeitig muss man aber sagen, dass diese Autoren Grundannahmen des ästhetischen Realismus nicht außer Kraft setzen: Literatur ist nach wie vor verpflichtet, ein Bild der Gesellschaft zu zeichnen, bleibt also mimetisch (‹nachahmend›). Mehr noch: Wie die Realisten des 19. Jahrhunderts halten auch die Autoren der Bundesrepublik an der Vorstellung fest, Literatur könne jene Ideen und Kräfte erkennen und darstellen, die die Gesellschaft steuern. Die Deutungskompetenz der Literatur wird nicht in Frage gestellt, der Erzähler besitzt nach wie vor einen Wahrheitsstandpunkt, von dem aus er Urteile über die ihn umgebende Gesellschaft fällen kann. Eingeschränkt gilt dies selbst für Wolfgang Koeppen, der sich am weitesten der Erkenntnis- und Wahrheitsskepsis öffnet. Aber auch sein Erzähler weiß von einem Muster der Geschichte, einer ewigen Wiederkehr von Konstellationen, von denen schon in mythologischen Erzählungen berichtet wird.
Es ist erstaunlicherweise gerade Arno Schmidt, in dessen Werken immer wiederkehrende und recht einfache Weltdeutungen mit großer Selbstsicherheit vorgetragen werden. Dies geschieht schon im «Leviathan». Denn die winterliche Fluchthandlung ist durchsetzt mit Redepassagen, in denen der Ich-Erzähler seine Weltdeutung darlegt, wobei er in einem alten Mann und der begehrenswerten Anne Wolf aufmerksame Zuhörer findet. Demnach ist der Mensch vom Selbsterhaltungswillen, vom Macht- und Sexualtrieb bestimmt. Daraus geht ein beständiger Kampf aller gegen alle hervor – der Buchtitel bezieht sich auf den alttestamentlichen Drachen Leviathan, aber auch auf die Philosophie von Thomas Hobbes (1588–1679), der in seinem «Leviathan» den Bürgerkrieg als Naturzustand der Menschheit ansah. Schmidts Werke sind mit intertextuellen Verweisen angefüllt; so greift er auch auf die pessimistische Anthropologie ArthurSchopenhauers (1788–1860) zurück, wenn sein Ich-Erzähler erklärt: «Denken Sie an die Weltmechanismen: Fressen und Geilheit. Wuchern und Ersticken. Zuweilen ein reines Formgefühl.» Den bedrängten Menschen ließ Schopenhauer in der Kunst und in einer kontemplativen Distanz zum Weltgeschehen Befreiung finden; entsprechend muss der Ich-Erzähler auch unter Granatenbeschuss Tagebuch führen und Reden halten.
Es ist der Anspruch, «Weltmechanismen» zu benennen, an dem die Autoren der frühen Bundesrepublik auch dort festhalten, wo sie ihre Werke erzähltechnisch komplex gestalten. Auch wenn verschiedene Stimmen zu Wort kommen, wenn selbstreflexiv gesprochen oder die bekannte Sprache verfremdet wird – eine dominante Perspektive, die die Wahrnehmung und Deutung der Welt steuert, bleibt erhalten. Jene Kräfte sichtbar und hörbar zu machen, die unter der Oberfläche wirken: das will auch die
Lyrik
der Fünfzigerjahre, in der die Naturlyrik, die seit etwa 1930 eine Wiederbelebung erfahren hatte, dominierte. Ihr lag die Annahme zugrunde, dass es einen eigentlichen Menschen vor der Pervertierung durch die Zivilisation gebe; es existiert eine reinere Welt unter der starren Oberfläche der vorhandenen, und Gedichte sind in der Lage, deren Spuren zu entdecken. Dazu gehören in der älteren Generation Wilhelm Lehmann (1882–1968), in der jüngeren der bereits genannte Günter Eich, der «Botschaften des Regens» hört und übersetzt.
Es traten aber auch Autoren mit einem neuen und eigenen Programm auf. Die ästhetisch stärkste Wirkung geht aus heutiger Sicht wohl von
Paul Celan
aus (1920–1970). Er war Jude, als junger Mann im Arbeitslager gefangen, seine Eltern wurden deportiert und umgebracht. Mit ihm kam das Schicksal der verfolgten Juden in die Literatur; davon wird in Büchern der Nachkriegszeit ansonsten kaum gesprochen. Seine Bilder der Vernichtung gehen aus den historischen Ereignissen hervor, sind aber auch der Romantik, der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts (Rainer Maria Rilke, Georg Trakl) und dem französischen Surrealismus verpflichtet: « UMSONST malst du Herzen ans Fenster: / der Herzog der Stille / wirbt unten im Schloßhof Soldaten.» Diese Verse stammen aus der Sammlung «Mohn und Gedächtnis»(1952). Mit ihnen stand Celan in der handfesten, gelegentlich wenig sensiblen Literaturszene allein, wie seine Lesung auf dem Treffen der «Gruppe 47» im Jahr 1952 dokumentierte; er erntete Unverständnis, Spott und Ablehnung. Dort las er
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