Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
auch sein berühmtestes Gedicht «Die Todesfuge»:
Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf
Das Gedicht verzichtet auf die bekannten Mittel lyrischer Sprache wie den Reim oder metrisch geordnete Verse. Aber es besitzt, wie man beim Lesen sofort hört, eine starke Rhythmik, die aus dem konzentrierten Einsatz von Daktylen hervorgeht («trinken sie mittags», «dunkelt nach Deutschland»), ebenso aus der Verwendung von Anaphern und syntaktischen Parallelismen («er schreibt», «er pfeift», «er befiehlt»). Das Gedichtsollte zuerst «Todestango» heißen, doch darf man das Grauen und den Massenmord in eine Sprache fassen, aus der ästhetischer Genuss hervorgeht? Mit einer solchen Frage befindet man sich auf dem Gebiet der Kunsttheorie und Moral. Im Anschluss an eine Aussage des Philosophen Theodor W. Adorno, wonach es «barbarisch» sei, nach Auschwitz überhaupt noch Gedichte zu schreiben, wurde intensiv über ästhetische Formen diskutiert, die das Wissen um den Kulturbruch durch den Holocaust enthalten. Adorno wandte sich gegen eine «harmonistische» und versöhnende Wirkung von Kunst; sie müsse Zeichen der «Zerrüttung» enthalten.
In den späten Fünfzigerjahren begann ein junger Lyriker zu veröffentlichen, dessen Energie sofort Aufsehen erregte. Seine Verse klangen wie eine Mischung aus Expressionismus und Rock ’n’ Roll, seine Interessen waren weitgespannt, die ästhetischen und politischen Debatten der folgenden Jahrzehnte bestimmte er mit:
Hans Magnus Enzensberger
(*1929). Auch er überzog die Bundesrepublik zunächst mit dem großen Verdacht, wandte sich (in dem gleichnamigen Gedicht) «An einen Mann in der Trambahn», entdeckte an ihm ein «Wasseraug» und einen «Scheitel aus Fett und Stroh». Er warf ihm vor, der Kulturindustrie («Sophia Loren») und dem Kapitalismus verfallen zu sein, um abschließend zu befürchten, dass dieser Mann demnächst «das Koppel / schnallen» und mit dem Kolben der Maschinenpistole an die Tür schlagen werde.
Berühmt wurde sein Gedicht «Ins Lesebuch für die Oberstufe», ebenfalls aus der Sammlung «Verteidigung der Wölfe» (1957). Das Gedicht war provozierend gemeint, hat aber inzwischen tatsächlich den Weg in zahlreiche Oberstufenbücher gefunden. «Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: / sie sind genauer»–so rhetorisch pointiert beginnt eine Kette von Aufforderungen an einen Jungen, der sich in einer Gesellschaft befindet, in der «Listen ans Tor» geschlagen und Neinsager verfolgt werden; «tödlichen Staub» soll man, ehe es zu spät ist, in die «Lungen der Macht» blasen.
Liest man ein solches Gedicht und hält dem neuere Darstellungen von Historikern wie Axel Schildt, Marie-Luise Recker,Edgar Wolfrum oder Manfred Görtemaker entgegen, dann ergibt sich eine erstaunliche Differenz: Während in der Literatur Bilder von Unfreiheit, Kontrolle und bedrohlicher Elitenherrschaft zu finden sind, beschreiben Historiker die Frühphase der Bundesrepublik zwar auch so, dass vordemokratische Einstellungen das öffentliche Leben immer noch mitbestimmten. Aber sie konstatieren vor allem die überraschend zügige Etablierung einer Gesellschaft, die von weltanschaulicher Pluralität, Mobilität und Durchmischung der Milieus, von steigendem Wohlstand und kultureller Vielfalt bestimmt war. Die Fünfzigerjahre erscheinen daher als gegensätzlich. Es gab den in Erinnerungen immer wieder
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