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Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Titel: Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: von Dirk Petersdorff
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erschossen wird. Dass der Regisseurin May Spils nach diesem Film nie wieder ein vergleichbarer Erfolg gelang, mag auch mit diesem Mangel an festen Überzeugungen zu tun haben. Ihr fehlte der Ernst jener jungen Filmemacher wie Alexander Kluge und Edgar Reitz, die seit den Sechzigerjahren mit dem «Oberhausener Manifest» für den Film als Kunst kämpften, Sehgewohnheiten aufbrechen, das Kino kommerziellen Mechanismen entziehen wollten. May Spils verdankt man den heiteren Nachmittag eines Bohemiens jenseits von Leistung und Besitzstreben, und das ist nicht gerade wenig.

3. Abschied vom Prinzipiellen
Von der «Trilogie des Wiedersehens» bis zu «Deutschland im Herbst»
    Einer der genauesten Analytiker der bundesrepublikanischen Gesellschaft, der ihren Dialogen zuhört, ihre Gefühlslagen erkundet, ihr romantische Sehnsüchte entgegenhält, aus ihr ausbrechen will, ist
Botho Strauß
(*1944). Seit den Siebzigerjahren treten Autoren auf, deren gesamte Lebenserinnerungen sich auf die stabile und erfolgreiche Ordnung der Nachkriegszeit beziehen: Kinder der Demokratie, der Marktwirtschaft, der Meinungsvielfalt und Mobilität. Botho Strauß lässt daher auch Figuren sprechen, die diese Ordnung kennen, ihre Regeln verstanden haben, ihr ganzes Leben auf Freiheit gestellt haben. Gleichzeitig leiden sie an der Normalität, an dem Mangel an Abenteuer und Größe, und aus diesem Widerspruch beziehen die Werke von Strauß ihre innere Spannung, so etwa die «Trilogie des Wiedersehens» (1976):
    MARTIN Schön und gut. Franz, wie im Leben eines jeden reifen Mannes, so gibt es auch bei mir eine natürliche Dunkelzone, die der eigenen Frau nicht zugänglich ist und auch gar nicht zugänglich sein darf. Und dort herrscht kein Frieden. Dort brodelt und zischt ein alter ego. Seitdem ich mich nicht mehr ums Geschäftliche kümmere, ist mir die Sittlichkeit in den Beziehungen der Menschen untereinander mehr und mehr ein Rätsel geworden. Irgend jemand sagt dauernd zu mir: es ist sowieso alles erlaubt. Achte auf die Regeln im Straßenverkehr, im übrigen tu, was dir gefällt. Es ist deine Privatsache. Privatsache! Wenn alles Privatsache wird im Leben, dann ist es nicht mehr interessant. Wir langweilen uns den Rest unserer Jahre zu Tode. Ich frage mich also: wie kann ich meinem Leben noch einmal ein zentrales Interesse abgewinnen? Etwas, das alle meine Kräfte in Anspruch nimmt, volles Risiko … Doch nur, indem ich ein Gewaltverbrechen begehe –
    FRANZ In unserem Alter? Ach nein. Ich selbst bin in der Jugend eine Weile auf der schiefen Bahn gelaufen. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt habe ich eine ähnliche Biographie –
    MARTIN Ich habe mein Verbrechen bereits verübt, Franz … Indem ich nämlich seit diesem Sommer zu einer Geliebten gehe –
    FRANZ
schweigt und raucht.
    MARTIN Ja.
    FRANZ Das tun Sie wirklich?
    MARTIN Glauben Sie’s mir nicht? Sieh an, er traut es mir nicht mehr zu! Menschenskind! Sie sind doch auch nicht schlechter beieinander als ich!
    In diesem Gespräch zweier älterer Männer werden die Grundlagen einer modernen Gesellschaft zwar polemisch verkürzt, aber durchaus zutreffend wiedergegeben: Der Staat legt Gesetze fest, die weitgehend formaler Art sind und deshalb mit Regeln im Straßenverkehr verglichen werden können. Die Entscheidung, wie ein richtiges, gutes oder wahres Leben aussehen soll, wird den Individuen überlassen, denen «alles erlaubt» ist, solange sie nicht gegen die Gesetze verstoßen, indem sie beispielsweise Gewalt anwenden. Martin meint nun, dass aus dieser Anordnung Langeweile hervorgeht. Das Leben benötigt ein «zentrales Interesse», aus dem es seine Energie bezieht.
    Botho Strauß teilt, das zeigt sein gesamtes Werk, Martins Aussage. Aber er weiß und führt auch vor, welche Schwierigkeiten eine solche Moderne-Kritik mit sich bringt und wie die Ausbruchsversuche aus der Normalität in der Regel enden: hier im Bett einer Geliebten. Die begonnene Affäre muss mühsam zum «Verbrechen» hochdramatisiert werden. Damit entkommt man den «Privatsachen» gerade nicht, doch woher sollte ein «zentrales Interesse», also eines, das nicht der Setzung und Revision des Individuums unterliegt, auch kommen? Die Sehnsucht nach Entgrenzung, nach dem Unbekannten, dem Kontakt zu einer anderen Sphäre muss daher, auch das sieht Strauß scharf, die Sexualität erfüllen.
    Die «Trilogie des Wiedersehens» wird im Untertitel als «Theaterstück» bezeichnet. Das ist eine neutrale Bezeichnung. Wenn im Bereich des

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