Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
Dramatischen grundsätzlich zwischen dem Tragischenund dem Komischen unterschieden wird, dann ist das Stück in der Tat nicht festzulegen. Es besitzt Elemente des Tragischen, da fast alle Figuren, Mitglieder und Freunde eines Kunstvereins im Alter zwischen 30 und 60 Jahren, sich im Zustand innerer Gefangenschaft befinden. Sie träumen von einer anderen Existenz, um doch zwanghaft in ihre alte Lebenssituation zurückzukehren. Sie sind an Wiederholungen gefesselt, und diese Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen und in Handlungen umzusetzen, ist als moderne Variante des antiken Fatums zu verstehen, das die Menschen steuert: «Warum sagst du mir nicht, was ich tun soll, um aus dieser trägen Qual herauszukommen? Aus dieser ewig unentschiedenen Gegenwart mit dir?», fragt eine Frau, Susanne, ihren Geliebten, Moritz, der ihr aber nicht helfen kann: «Wir von Augenblick zu Augenblick, und sonst gar nichts. Wir Geschiedene. Wir Rücken an Rücken Vereinte. Wir Wiederkehrende –».
Gleichzeitig besitzt das Stück aber auch komische Züge, die aus dem Kontrast von pathetisch-hochgespannter Rede und skeptisch-nüchterner Gegenrede hervorgehen. So gibt es eine Schriftstellerfigur namens Peter, die sich wie folgt äußert: «In einer Gesellschaft wie der unseren scheinen die Genuß- und Leidensfähigkeiten des Menschen mehr und mehr zu verkümmern», oder auch so: «Wir müssen hart arbeiten für die Wiedergewinnung der Tränen, des verschollenen Lachens, der Schmelzflüsse von Lust und Trauer.» Aber in einer Gesellschaft der vielen Meinungen gibt es eben auch Menschen, die mit solchen Aussagen wenig anfangen können und dies in aller Deutlichkeit vermelden: «Und euer Dichterfratz, der aussieht wie mein Untermieter, der dürre Fernmeldetechniker, spricht von grausamer Erregung und dabei hört man, wie ihm im ganzen Leib die Knochen klappern». Hier liegt wohl auch ein scherzhafter Seitenschlag gegen den Dichterkollegen Peter Handke vor, was bemerkenswert ist, weil Handke sowohl die Gesellschaftsdiagnose wie auch die romantischen Sehnsüchte mit Strauß teilt; Strauß ironisiert sich hiermit auch selber.
So wie das Stück den Gegensatz von Tragik und Komik unterläuft, so fügt es sich auch nicht den Formgesetzen der dramatischenTradition. Als Trilogie besteht es aus drei «Teilen», denen aber keine kompositorische Funktion zukommt, etwa im Sinn einer Einleitung, einer Steigerung oder eines Höhepunkts. Denn im Verlauf der drei Teile ändert sich eigentlich gar nichts. Schon von einer Handlung wird man nur eingeschränkt sprechen können: Zur Eröffnung einer Kunstausstellung hat sich eine Gruppe von Menschen zusammengefunden, die sich bereits länger kennen. Der Vorstand des Kunstvereins verlangt das Abhängen eines Bildes («Karneval der Direktoren»), das zur Ausstellung gehört, weil hier eine bekannte Person der Stadt in satirischer Form dargestellt werde. Damit zeichnet sich ein Konflikt ab, der aber entschärft wird, bevor er eigentlich begonnen hat; auch dies eine Aussage über die Bundesrepublik, die mit ihren Gegensätzen moderierend und ausgleichend umgeht.
In einer Nebenhandlung nähern sich Moritz und Ruth einander an. Am Anfang steht eine Vision, in der die Liebe von den Schwierigkeiten der Individualität erlöst: «Würden Sie nicht gerne Ihre Gestalt, Ihren Körper dafür geben, um nur noch Licht zu sein, ein unsäglich zarter physischer Schimmer. Alle Zeit wären Sie hell, unauslöschlich und niemand Bestimmtes.» Sie wollen dann die Stadt verlassen, gehen zum Bahnhof, nehmen aber nur ein Zimmer im Bahnhofshotel, wo es womöglich zu einem kurzen sexuellen Abenteuer kommt. Später steigert Ruth noch die Fallhöhe von Auf- und Abbruch: «Das ist ja überhaupt das Beste an dem kleinen Zwischenfall, daß einem hinterher doch der eine oder andere ein gewisses Mehr an Beachtung schenkt.»
Wenn sich die «Trilogie des Wiedersehens» im Kreis dreht, dann auch wegen der psychischen Struktur der Personen. Das klassische Drama lebte davon, dass Figuren Überzeugungen besaßen, für die sie unbedingt einstanden. Es gab Gefühle, die sie nicht zu opfern bereit waren, auch wenn ihnen Nachteil und Schaden entstanden, selbst wenn sie ihr Leben dafür hergeben mussten. Strauß entwirft Choreographien, die an klassische Dramen erinnern, wenn die Besucher der Ausstellung sich zu einem «Chor» gruppieren, während eine Figur in «hellem Licht» einen Monolog spricht. Aber so wie diese Figur eben«Susanne» heißt, so sind
Weitere Kostenlose Bücher