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Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Titel: Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: von Dirk Petersdorff
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die Räume von Strauß mit Menschen bevölkert, die eine Existenz ohne letzte Gewissheit leben: «Weil zwischen uns nie etwas so gemeint ist, wie es gesagt wird. Und die Meinungen selber wechseln im Galopp. Heute Beschuldigung, morgen Entschuldigung. Heute Zusage, morgen Absage. Heute Trennungsstrich, morgen Bindestrich.» Die Figuren wünschen sich, anders handeln, denken und fühlen zu können, kommen aber nicht aus ihrer bundesrepublikanischen Haut.
    Anders als im politischen Protest der Sechzigerjahre würde Strauß die Bundesrepublik nicht als repressiv oder gar faschistisch bezeichnen. Er leidet an dem Übermaß an Freiheit, das sie bietet. Er leidet an dem Mangel an Symbolen und Geheimnissen, die auf eine andere Wirklichkeit verweisen könnten. Alles, was bedeutungsvoll, rein und heilig sein könnte, wird sofort von irgendeiner Seite mit Gegenrede und Spott überzogen. Auch Strauß ist von diesem Zwang zur Ironie infiziert, möchte ihn aber gleichzeitig loswerden. Knapp zwanzig Jahre später, 1993, schrieb er einen Essay, «Anschwellender Bocksgesang», der im «Spiegel» erschien und einen Fundamentalangriff auf die moderne Gesellschaft enthielt. Da wünschte er sich die «glaubensgestützten» Ordnungen der Vergangenheit zurück, verglich Talkshows mit stalinistischen Schauprozessen und rechtsextreme Gewalttaten mit kultischen Handlungen. Aber nach diesem Essay zog er sich wieder in die Welt der Kunst zurück, in jenen abgeschiedenen Garten (‹hortus conclusus›), in dem man mit den großen Geistern spricht, mit Novalis oder Rudolf Borchardt, ein Denken praktiziert, das fragmentarisch, uneindeutig und suchend vorgeht, und eine Erotik lebt, die noch Geheimnisse birgt.
    Die «Trilogie des Wiedersehens» gehört zur Bundesrepublik nach den politischen Aufbrüchen und Reformhoffnungen. Als 1969 die sozialliberale Koalition aus SPD und FDP die Regierung bildete und Willy Brandt der erste SPD-Bundeskanzler wurde, verbanden sich damit zunächst weitreichende Hoffnungen: Nun sollten die Veränderungsideen der Sechzigerjahre politisch realisiert werden; es herrschte die Vorstellung, die Gesellschaft nach einem zentralen Entwurf steuern zu können. VieleSchriftsteller standen dieser Regierung nahe. Günter Grass und Siegfried Lenz begleiteten Willy Brandt auf jener Polenreise im Dezember 1970, die zu dem bewegenden Kniefall am Denkmal für die Helden des Aufstands im Warschauer Ghetto führte.
    Am Anfang der ‹Willy-Jahre› gab es ein starkes Engagement in den Parteien und in gesellschaftlichen Bewegungen. Der Staat entsprach vielen dort entwickelten Forderungen, investierte erheblich in den Bereich der Bildung, liberalisierte die Rechtsprechung, gerade im Bereich des Ehe- und Familienrechts. Die Brandt-Regierung begann auch eine ganz neue Phase der Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion, der DDR und den osteuropäischen Staaten. Man bemühte sich um eine Aussöhnung, war bereit, den geographischen Status quo zu akzeptieren, und erwartete gleichzeitig, dass diese Annäherung zu einem langfristigen Wandel der östlichen Systeme führen würde. Diese Phase des Aufbruchs wurde jedoch schon bald gestört: Die Bildungspolitik verwandelte sich in einen innenpolitischen Kampfplatz, die Finanzpolitik des Staates geriet an ihre Grenzen, besonders als 1973 ein gesamtwirtschaftlicher Einbruch zu bewältigen war, und auch die neue Ostpolitik ließ sich nur nach erheblichen inneren Kämpfen durchsetzen.
    Das auf Interessenausgleich und Konsens ausgerichtete ‹Modell Deutschland› stand ab der Mitte der Siebzigerjahre vor erheblichen Herausforderungen: Die Regierung Helmut Schmidt (1974–1982) musste der Terrorwelle der «Roten-Armee-Fraktion» entgegentreten. Neue soziale und politische Bewegungen entstanden, die sich schwer integrieren ließen, wie die großen und zum Teil gewalttätigen Demonstrationen gegen die Atomenergie und gegen die Stationierung neuer Nato-Raketen zeigten. Hält man neben die Bilder, die Willy Brandt gemeinsam mit Grass und Lenz zeigen, ein anderes berühmtes Foto, auf dem Heinrich Böll 1983 inmitten der Demonstranten vor dem Raketenlager in Mutlangen zu sehen ist, dann wird deutlich, dass das Zusammenwirken von Schriftstellern und Vertretern des politischen Systems auf eine kurze Phase begrenzt war.
    Fragt man nach der Entwicklung der Lebensstile und Mentalitäten seit den Siebzigerjahren, dann bestand trotz des erstenwirtschaftlichen Einbruchs 1973 die Vorstellung einer umfassenden

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