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Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Titel: Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: von Dirk Petersdorff
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Daseinsvorsorge durch den Staat; damit einher ging jene abnehmende innere und äußere Beweglichkeit, die Botho Strauß vorführt: «Unsere einzige Hoffnung: der gleiche Lauf der Wiederholung». Allerdings erhöhte sich die Zahl der Lebensformen: Die Kleinfamilie war zwar immer noch das dominante, aber nicht mehr das einzige Modell, und in ihr änderte sich der Umgang der Geschlechter hin zu einem partnerschaftlichen Verhalten. Andere Konstellationen breiteten sich aus, es gab mehr unverheiratete Paare, kinderlose Paare sowie Singlehaushalte. Die Selbstentfaltungswerte wurden zum Allgemeingut, man gewöhnte sich daran, die eigene Psyche zu thematisieren. Die Utopien der Sechzigerjahre waren verraucht, nun musste jeder für sich eine Lebensbahn finden:
    Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße
nach Süden.
    Einige schrieben uns Postkarten aus der Einsamkeit,
um uns zu endgültigen Entschlüssen aufzufordern.
    Einige saßen auf dem Berg,
um die Sonne auch nachts zu sehen.
    Einige verliebten sich,
wo doch feststeht, daß ein Leben
keine Privatsache darstellt.
    Einige träumten von einem Erwachen,
das radikaler sein sollte als jede Revolution.
    Einige saßen da wie tote Filmstars
und warteten auf den richtigen Augenblick,
um zu leben.
    Einige starben,
ohne für ihre Sache gestorben zu sein.
    Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße
nach Süden.
    In diesem Gedicht von
Wolf Wondratschek
(*1943) mit dem Titel «In den Autos» wirkt das vorangegangene politische Jahrzehnt noch nach. In den politisierten Jahren hatte man gelernt, dass das Leben «keine Privatsache darstellt», jetzt sagt man es noch einmal auf, als ironisches Zitat. Jetzt träumt man von einem «Erwachen», das nicht politisch ist, dafür in seiner Intensität die Revolutionshoffnungen noch überbietet. Doch wo es sich ereignen wird, lässt sich nicht sicher sagen, und deshalb finden Suchbewegungen statt, die sich auf die Natur oder die Liebe richten, deshalb gibt es Rückzüge in die «Einsamkeit», wartet man «auf den richtigen Augenblick», ohne zu wissen, woran man ihn erkennen wird. Die einen suchen die Erlösung, die anderen nur den richtigen Radiosender, und das alte deutsche Reizwort «Süden» umrahmt das Gedicht. Einige der politisch Bewegten sind jung gestorben, auch das entspricht den historischen Fakten, die anderen sind «ruhig» geworden.
    Das Gedicht «In den Autos» steht auch in seiner Formsprache für die Siebzigerjahre. Die Lyrik dieser Zeit verwendete einen einfachen Satzbau und ein aus der Alltagssprache bekanntes Vokabular. Sie prunkte nicht mit unerhörten Metaphern, wollte «Lyrik für Leser» sein, wie es die wichtigste Anthologie dieser Zeit im Titel erklärte. Die Dichter nahmen das gewöhnliche, entdramatisierte Leben in die Lyrik auf, sie waren Beobachter und Zuhörer, hielten kostbare Momente in Hinterhöfen fest oder beschrieben die zwischenmenschliche Dynamik einer Wohngemeinschaft. Dass der Verzicht auf traditionelle Mittel der Gedichtstrukturierung nicht in öder Formlosigkeit enden muss, zeigt «In den Autos» ebenfalls. Das leicht lesbare Gedicht ist streng gebaut und gewinnt seine Rhythmik durch Wiederholungsfiguren, die generell für reimlose Lyrik ohne festes Metrum das wichtigste Mittel der Formgebung sind. Wondratschek wiederholteine gesamte Strophe, setzt das Substantiv «Einige» an den Anfang jeder Gruppenbeschreibung, worauf ein Verb folgt, wiederholt syntaktische Strukturen, in diesem Fall Finalsätze («um zu»).
    Der wichtigste Lyriker dieses Jahrzehnts ist
Rolf Dieter Brinkmann
(1940–1975), der früh bei einem Verkehrsunfall starb. Als der amerikanische Literaturwissenschaftler und Kritiker Leslie Fiedler (1917–2003) seinen Essay «Cross the Border – Close the Gap» veröffentlichte, in dem er für eine Überwindung der Grenze zwischen hoher und niederer Kultur und für die Darstellung von Lebensbereichen plädierte, die bisher als nicht kunstfähig angesehen worden waren, stimmte Brinkmann ihm vehement zu. Fiedler war von der Populärkultur fasziniert, von Geschichten, die «Erwachsene und Kinder, gebildet und ungebildet, in gemeinsamer Verzauberung» verbinden, und von Songs, die existentielle Herausforderungen in einer gegenwärtigen Sprache beschreiben. «Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs», schreibt Brinkmann in der Vorbemerkung zu seinem Gedichtband

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