Liverpool Street
ihr niemand helfen könne, auch ich nicht. Im Gegenteil: Ich sei die Einzige mit einem Zuhause, mit Plänen und einer Zukunft, und es läge nicht nur nicht im Interesse meiner Mutter, dass ich all dies ihretwegen aufgab, sondern er habe sogar den Eindruck, es setze sie unter Druck.
Es dauerte eine Weile, bis er verstand, dass auch Mamu zu meinem Leben gehörte, dass es keine Zukunft, keine Pläne, kein Zuhause geben konnte, das sie nicht mit einschloss. Dass ich nichts aufgab, sondern dazugewann.
Auf welch verschlungenen Umwegen ich zu dieser Einsicht gelangt war, behielt ich für mich; zu sehr war ich selbst noch damit beschäftigt, über all das nachzudenken. Seit ich Deutschland verlassen hatte, war ich überzeugt gewesen, dass meine Mutter sich nur von mir hatte trennen können, weil ich für sie nicht besonders wichtig war. Zwar hatte ich früh geahnt, dass sie mir damit wohl das Leben gerettet hatte, aber immer, auch in meinen glücklichsten Momenten, war da dieser kleine Stachel gewesen: Meine Mutter hatte mich aufgegeben.
Doch nun schickte mich auch meine zweite Mutter auf die Reise – und alles war anders. An Amandas Liebe zweifelte ich nicht; ich hatte erfahren, was ich ihr und Matthew bedeutete, dass ich ein ebenso unverzichtbarer Teil ihres Lebens war wie sie des meinen. Die beiden brauchten mich, es musste ihnen unendlich schwerfallen, und dennoch ließen sie mich gehen. Sie trennten sich aus keinem anderen Grund von mir, als dass sie auf mein noch größeres Glück hofften.
Und so kam es, dass ich jetzt, erst jetzt, langsam begriff. Man konnte einen Menschen gehen lassen, weil man ihn liebte. Vielleicht war es auch bei Mamu nicht anders gewesen. Vielleicht würde ich es bald herausfinden. Schon jetzt hatte ich große Zuversicht, dass es so war. Schon jetzt zeigte sich vieles, was ich von ihr in Erinnerung hatte, in einem anderen Licht.
Amanda hielt ihren Hut fest, stemmte sich gegen den Wind, der um die Reling fegte, und kniff unternehmungslustig die Augen zusammen, um den Kontinent zu erkennen, wie sie es nannte. Plötzlich musste ich lächeln. Es ist keine traurige Reise, machte ich mir Mut. Es ist nicht einmal ein richtiger Abschied – diesmal nicht!
Beinahe froh dachte ich an die beiden Besuche, die ich am Tag zuvor gemacht hatte. Mrs Collins war nicht gerade glücklich gewesen, als sie von meinen neuen Plänen erfuhr, dennoch hatte sie mir ihre Unterstützung nicht entzogen: »Wenn du es dir anders überlegst, werde ich schon dafür sorgen, dass du auch mitten im Schuljahr noch zu den anderen stoßen kannst. Wäre ja nicht das erste Mal«, hatte sie augenzwinkernd hinzugefügt, bevor sie das Unglaubliche tat und mich umarmte.
Hazel meinte: »Endlich ist der Krieg auch für dich zu Ende!«
Und Matthew sagte: »Egal wie du dich entscheidest, ich werde dich nie anders sehen als als meine Tochter.«
»Ich könnte nicht gehen, wenn ich das nicht wüsste«, antwortete ich ihm.
Die Zugfahrt von Hoek van Holland nach Groningen war beschwerlich. Nachdem die Deutschen im letzten Kriegswinter die Zuteilung auch sämtlicher Heizmittel in den Niederlanden gestoppt hatten, hatten die verzweifelten Einwohner Eisenbahnschwellen herausgerissen und verfeuert. Noch waren nicht alle Strecken wiederhergestellt und wir hatten mit Onkel Erik und Mamu vereinbart, uns in Rotterdam zu treffen, um an einem der folgenden Tage gemeinsam in den Norden weiterzureisen. Mein Onkel hatte ein bestimmtes Café als Treffpunkt vorgeschlagen, von dem er wusste, dass es seinen Betrieb wieder aufgenommen hatte.
Als wir zu Fuß die kurze Strecke vom Bahnhof zu unserer Pension gingen, war ich erschüttert über die Spuren, die Krieg und Hunger hinterlassen hatten. Zerbombte Ruinen – noch aus dem ersten Kriegssommer – waren ein vertrautes Bild für mich, doch es gab auch keinen einzigen Baum, ausgemergelte Kinder starrten uns an, in den Auslagen der Schaufenster standen Käse- und Butterattrappen aus Pappe. Die Menschen, die ihre fast leeren Einkaufskörbe über die Straße trugen, wirkten grau und müde.
Amanda und ich waren selbst sehr bescheiden gekleidet, unsere Mäntel und Röcke so oft gestopft und ausgebessert, dass man sich vorsichtige Bewegungen angewöhnt hatte, um den Stoff nicht unnötig zu strapazieren. Aber alles, was wir in London an Rationierung erlebt hatten, verblasste vor dem Elend, das offenbar über die Holländer hereingebrochen war, und als ich unsere Wirtin in der Pension freundlich auf Deutsch
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