Liverpool Street
ganzen Körper ging. Die Tauben flatterten auf, vor dem Fenster war ein kurzer, ärgerlicher Wirbel aus blauschwarzen Flügeln, und sie war da.
Oh mein Gott. Ist das Mamu?
Ich erkannte sie daran, dass sie an Onkel Eriks Arm ging: eine ältere Frau im hellen Mantel und mit schwarzen, zu stark gefärbten Haaren, die das Gesicht darunter noch fahler und blasser erscheinen ließen. Trotz des milden Wetters war deutlich zu erkennen, dass sie fror, und ihre Schritte waren so zögernd und schleppend, als trüge sie Bleigewichte unter den Zehen. Als sie noch näher kamen, sah ich, dass Mamus Wangen zwei kleine Taschen bildeten, die kraftlos herabhingen.
Ein Stromstoß unterschiedlichster Gefühle ergriff mich: Mitleid, Liebe, Wut, Ohnmacht. Entsetztes Begreifen, was die Nazis getan hatten: meine stolze Mutter! Sie war nicht getötet und doch zerstört worden. Auch sie war ums Leben gekommen . Sie hatten ihr alles genommen.
Alles?
Nein, etwas musste es gegeben haben, das sie hatte aushalten lassen. Etwas musste sie dazu gebracht haben, ihre Kräfte zu sammeln, die Fahrt nach Rotterdam zu wagen und hierherzukommen. Etwas hatte sie ihr Haar färben und ein altvertrautes Merkmal wiederherstellen lassen: die charakteristische, vorwitzige Strähne, die ihr in die Augen hing und in ihrem verhärmten Gesicht merkwürdig trotzig, mutig und herausfordernd ausschaute. Etwas schien sie dazu bewegen zu wollen, es noch einmal mit sich zu versuchen.
Nein. Nicht etwas . Ich.
Draußen auf dem Platz stand Amanda auf und tat dasselbe wie bei unserer ersten Begegnung: Sie streckte die Hand aus und ging auf Mamu zu, und in deren ängstlichem Gesicht spiegelte sich plötzlich die Wärme dieser Begrüßung, das Lächeln meiner anderen Mutter. Mamus Hand noch in der ihren, wandte Amanda sich um und wies in meine Richtung, sagte etwas, sie und Onkel Erik lachten … und die losen Enden meines Lebens fügten sich zusammen, Ziska und Frances, Mamu und Amanda, gestern, jetzt, bald.
Ich merkte nicht, wie ich von meinem Platz aufstand, ich spürte nur, wie es mich quer durch den Raum zur Tür zog.
»Alles in Ordnung?«, fragte die Frau im Café.
»Aber ja.« Da trat ich schon hinaus, ins Freie. »Alles ist gut, wie es ist.«
Das wäre ein schönes Ende gewesen, finde ich.
EPILOG
Der Kapitän sah schweigend zu, wie die Besucher einander an Bord halfen. Sie waren zu fünft – zwei Pärchen und ein kleines Mädchen von etwa drei Jahren in einer roten Schwimmweste – und hatten den Kontakt über den Wirt der Pension in Ponta Delgada hergestellt, wie es häufig geschah. Das ältere der beiden Paare war um die fünfzig, er ein großer, ernster Mann im langen Mantel und Hut, sie schmal und in sich gekehrt mit einem zarten hübschen Gesicht und einem warmen Lächeln.
Die junge Frau war fast noch ein Mädchen, nicht mehr als Anfang zwanzig, ihr Begleiter – eindeutig der Vater der Kleinen, die seine braunen Locken und runden Wangen geerbt hatte – trug Uniform, aber wohl nur zu diesem Anlass, denn es war nicht zu übersehen, dass sie über Brust und Bauch bereits spannte. Einer von Montys Jungs! Der Kapitän grüßte respektvoll, als er die Abzeichen der 8. Armee erkannte.
Die Koordinaten, die sie ihm gezeigt hatten, waren die der HMS Cole oder der Princess of Malta , die nur wenig entfernt lag. Drei Stunden, schätzte er, bei ruhiger See. Er fragte nicht, um welches Schiff es sich handelte: Innerhalb der nächsten Stunde würde der Erste von ihnen zu ihm kommen und es ihm sagen, und er würde dankbar und erfreut feststellen, dass Kapitän Swanson die Geschichte »seines« Schiffes kannte.
Über das Wasser schauend freute er sich, dass es ein ruhiger Tag war. Es machte den Angehörigen die Sache so viel leichter, eine friedliche blaue See zu sehen, den warmen Lufthauch zu spüren, die absolute Stille dort, wo »es« passiert war. Denn das würde von nun an ihre Erinnerung sein und sie würden nicht wissen, wie es in Wirklichkeit gewesen war. Kapitän Swanson mochte die Tage nicht, an denen die See grollte, an denen man es tief unter der Oberfläche lärmen und toben hörte. Das waren keine guten Tage für sein Geschäft.
In letzter Zeit hatte er wieder darüber nachgedacht aufzuhören. Er war jetzt weit über sechzig, hatte vierzig Jahre davon auf See verbracht, erst als Fähnrich im Großen Krieg, wie man ihn damals genannt hatte, als man noch nicht wusste, dass es einen Zweiten Weltkrieg geben würde, später als Offizier.
Und
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