Liverpool Street
ist.«
Amanda hatte die seltsamsten Ideen. »Ich glaube, ich hatte wieder deine Mutter am Telefon«, beharrte sie, als ich nach Hause kam. »Das war nun schon das dritte Mal in einer Woche, dass der Apparat geklingelt und sich niemand gemeldet hat. Ich höre am Klicken, dass es eine Auslandsverbindung ist, aber der Anrufer sagt seinen Namen nicht und nach wenigen Sekunden legt er auf.«
»Warum sollte sie so etwas tun?«, fragte ich unwillig.
»Weil sie mit mir nicht sprechen will. Vielleicht hat sie Angst.«
»Mamu? Angst? Vor dir? Das ist lustiger, als du ahnst«, erwiderte ich, aber insgeheim beschlichen mich langsam Zweifel. Konnte ich denn überhaupt noch wissen, was meine Mutter fühlte und dachte?
Als am nächsten Abend unser Telefon klingelte, schoss ich beinahe in den Flur, um Amanda zuvorzukommen. Leider war es ein Gespräch für Matthew. Ich gab dem Anrufer die Nummer des Kinos und legte enttäuschter auf, als ich erwartet hatte.
Amanda stand in der Küchentür. »Es war noch nie am Abend. Immer am späten Nachmittag, wenn ich gerade aus dem Altenheim nach Hause kam.«
»Vielleicht solltest du sie einmal beim Namen nennen«, schlug ich zögernd vor. »Margot.«
»Ja, das ist eine gute Idee. Ich fange einfach an zu sprechen. Erzähle ihr von dir. Ich könnte mir vorstellen, dass sie jeden Nachmittag allein einen Spaziergang macht und dabei an einem öffentlichen Telefon vorbeikommt. Denn wenn Erik dabei wäre, würde er sich ja melden, zumal man sicher Stunden auf eine Verbindung warten muss …«
Natürlich hatten wir uns offiziell längst versöhnt. Wir hatten seit Southend noch zweimal miteinander Schabbat gefeiert und das Ausräumen von Unfrieden gehörte ebenso dazu wie die rechtzeitige Vorbereitung der Mahlzeiten. Dennoch konnte ich Amanda keineswegs vergessen, dass sie mich so preisgegeben hatte; ich ließ sie meine Distanz deutlich spüren und hoffte, dass ihr das ebenso zu schaffen machte wie mir.
An den nächsten Nachmittagen hielt ich mich ständig in Hörweite des Telefons auf, doch ich wartete umsonst: Wer auch immer eine kurze Zeit unsere Nummer gewählt hatte, um dann zu schweigen, hatte es offenbar aufgegeben. Die erste Woche meiner Ferien verstrich, die Amerikaner warfen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und der Krieg, der in Polen begonnen hatte, fand am Pazifik ein Ende. Garys dritter Todestag kam und ging und Amanda sagte: »Ich möchte dorthin, wo es passiert ist. Eines Tages, wenn es wieder möglich ist, werde ich hinfahren.«
Hamburg, den 13. August 1945. Betrifft: Liebich, Susanna, Hermann und Rebekka. Auf Ihren Nachforschungsantrag nach den oben Genannten haben wir festgestellt, dass die ganze Familie am 19. Oktober 1942 nach Lettland deportiert worden und dort ums Leben gekommen ist. Wir haben die Personalien dem World Jewish Congress in London übermittelt. Sollte dort eine Meldung vorliegen oder noch eingehen, werden Sie umgehend benachrichtigt. Wir bedauern sehr, Ihnen keine günstigere Nachricht übermitteln zu können, und verbleiben mit freundlichen Grüßen. Deutsches Rotes Kreuz, Landesverband Hamburg, Auslandsdienst.
Amanda sah den Brief mit dem Stempel des Roten Kreuzes, als sie nach Hause kam. Wie durch eine Nebelwand hörte ich sie im Haus nach mir rufen, Küche, Flur, mein Zimmer, ihr Zimmer. Keine zwei Minuten vergingen, bis sie atemlos in den Garten gestürzt kam und geradewegs auf den unwahrscheinlichsten Ort von allen zulief, den Shelter, in den ich nie wieder einen Fuß hatte setzen wollen. Seltsam, dass sie auf den Gedanken kam. Ich hatte zurückrufen, ihr antworten wollen, aber es war, als hätte ich vergessen, wie man spricht.
»Francesfrancesfrances …« Mein Name, wie ein fernes Echo. Im Eingang ein kurzes Wechselspiel aus Licht und Schatten, eine Gestalt beugte sich vor, um hineinzuschauen, kam wie in Zeitlupe auf mich zu. Immer, wenn wir hier zusammen gewesen waren, hatte ich fürchterliche Angst gehabt. Es war laut gewesen, so brüllend und unerträglich, dass es in der Erinnerung bereits unwirklich wurde, doch vor den Bomben hatte diese seltsame kleine Wellblechröhre mich schützen können. Nun war es still und warm, es roch nach Erde und Sommer, und es gab keinen Schutz vor einem Blatt Papier.
Nach Lettland deportiert und dort ums Leben gekommen. Vier Sekunden? Fünf? Wenige Augenblicke, um diese Worte zu lesen. Acht Worte, fünfundvierzig Buchstaben. Die einzige aller Hoffnungen, an der ich beständig festgehalten hatte. Sie,
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