Liverpool Street
ausgelöscht, dann gab es nichts, was sich nicht bewältigen ließ.
Es war Mittagszeit, als meine Mutter anrief, der Mittag des zweiten Tages, nachdem ich von Bekkas Tod erfahren hatte. Amanda war in der Küche, um uns etwas zu essen zu machen, und da wir beide stillschweigend davon ausgingen, dass unser anonymer Anrufer eine andere Zeit wählen würde, war sie es, die an den Apparat ging.
Was mich dazu brachte, beim Klingeln des Telefons vom Bett aufzustehen und an den Treppenabsatz zu treten, weiß ich selbst nicht. Ich stand schon dort, als sie sich meldete: »Harrington Grove 121?«
Eine Pause entstand. Das bedeutete nichts; schließlich würde jeder Anrufer erst einmal seinen Namen und sein Anliegen nennen müssen. Aber ich spürte es sofort. Diese absolute Stille. Das Haus hörte auf zu atmen. Es wartete auf das Zauberwort.
Amanda sagte sehr ruhig: »Margot?«
Mein Fuß schwebte über der ersten Stufe.
»Bitte bleib. Häng jetzt nicht auf. Wir haben schon auf dich gewartet.«
Ich hatte es immer geliebt, Amanda Jiddisch sprechen zu hören, diese warme, heitere Sprache, unsere Sprache, Ziska, seit Jahrhunderten. Eine Sprache wie eine Brücke. »Mit allem hatte ich gerechnet«, sagte Mamu später. »Nur nicht damit, dass da ein Du auf mich wartete.«
»Wie gut, dass du anrufst, ausgerechnet heute. Deine Tochter ist so traurig. Sie hat hören müssen von dem Tod ihrer Freundin Bekka …«
Das geschliffene Holz des Treppengeländers streichelte die Innenfläche meiner Hand, ich fühlte die vertraute kleine Kerbe in der Treppenmitte.
»Weißt du noch, dass Bekka zu uns hätte kommen sollen? Der Krieg kam zu früh um nur zwei Tage …«
Die letzten Stufen. Amanda stand mit dem Rücken zu mir und unsere Augen trafen sich im Garderobenspiegel, trafen sich, hielten sich … und in diesen Sekunden erkannte ich, was sie mich nie hatte sehen lassen wollen: den Schmerz, den die Liebe zu mir sie kostete.
»Jetzt kann ich nur ein Kind zurückgeben an seine Mutter«, sagte Amanda leise zu uns beiden und erst da erinnerte ich mich, dass auch sie einmal ein Versprechen gegeben hatte.
Ganz fest schloss sie die Küchentür hinter sich, nachdem sie den Telefonhörer an mich weitergereicht hatte. Zum ersten Mal seit über sechseinhalb Jahren hörte ich die Stimme meiner Mutter.
»Ziska? Mein Ziskele! Ich habe fast dreißig Seiten an dich geschrieben und jetzt trau ich mich einfach nicht, sie abzuschicken …«
24
Wer als beinahe Erwachsene zu einer Mutter zurückkehrt, die man als Zehnjährige zuletzt gesehen hat, sollte nicht mit einem Freudenfest rechnen – selbst dann nicht, wenn man zwei Wochen lang jeden Tag telefoniert hat, wenn die Stimmen wieder vertrauter geworden sind, wenn auch die alte Sprache noch funktioniert. Mein Magen krampfte sich nervös zusammen, als der helle Streifen der holländischen Küste vor uns auftauchte; ich hatte die Überfahrt viel länger in Erinnerung gehabt und war auf einige weitere Stunden Aufschub gefasst gewesen. Immer noch fiel es mir schwer zu glauben, dass ich tatsächlich unterwegs war, unterwegs zurück.
Am Pier in Harwich hatte Amanda ein Rückfahrtticket, ich selbst eine einfache Fahrt gelöst. »Ich kann noch nicht sagen, ob ich zurückkomme«, hatte ich der Frau am Schalter erklärt, als ob es sie interessieren müsste. Interessiert hatte es, wenn überhaupt, wohl nur den Mann, der mit ernstem Gesicht den Ausreisestempel in meinen alten deutschen Kinderausweis gedrückt hatte.
»Ich weiß nicht, ob ich noch ein Mensch bin, bei dem ein junges Mädchen aufwachsen sollte«, hatte Mamu zaghaft eingewendet, die noch viel größere Angst vor meiner Rückkehr zu haben schien als ich.
»Ich bin bereits aufgewachsen, Mamu«, erinnerte ich sie.«
»Meine Güte, dass ich das immer wieder vergesse! Dieser große britische Soldat, der mich in den Zug gesetzt hat … zum Glück hat Erik mir erst hinterher gesagt, dass das dein Verlobter war, sonst wäre ich einen Schritt vor der Freiheit noch tot umgefallen.«
»Nun, mein Verlobter ist er zwar nicht, aber stell dich darauf ein, dass du ihn bald wiedersiehst. Er ist in Lübeck stationiert und wird bestimmt oft vorbeikommen.«
»Wenn du bleibst«, sagte Mamu, immer noch zweifelnd.
»Wenn ich bleibe«, bekräftigte ich.
Onkel Eriks Bedenken waren konkreter. Ob mir bewusst sei, dass meine Mutter nicht mehr dieselbe sei, unter Panikattacken, Essstörungen, Schlaflosigkeit und Phasen tiefster Verzweiflung leide, in denen
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