Liverpool Street
die sich selbst Englisch beigebracht, einen Geheimplan im Schuh getragen, die Nussschokolade, Abenteuerbücher und ganz besonders Shirley Temple geliebt hatte, ohne je ins Kino gehen zu dürfen. Einen Film, Der kleinste Rebell, hatte sie immerhin bis zur Hälfte gesehen, bevor andere Kinder sie erkannt und aus dem Saal gescheucht hatten. Ihre Augen hatten gestrahlt, als sie mir das Ende erzählte, ihres, das sie sich selbst ausgedacht hatte: »Und wenn wir in Amerika sind, gehe ich mir ansehen, ob das echte Ende so gut ist wie meins!«
Sie wusste es, dachte ich. Sie wusste, was der Kindertransport bedeutete, und was es hieß, zurückzubleiben. Sie hatte sich stark gemacht, sie hätte bei den Überlebenden sein müssen. Ihre Welt ist nicht zusammengebrochen, als sie ermordet wurde, sondern schon lange vorher: als das Los zu leben mich traf und nicht sie.
Ich werde es nie verstehen, dachte ich. Wenn du stirbst und ich lebe, dann gibt es keine Regeln auf dieser Welt.
»Es steckt keinerlei Sinn darin, dass sie tot ist. Es steckt sehr viel Sinn darin, dass du lebst.«
Ich weiß nicht mehr viel von den zwei Tagen und Nächten zwischen dem Brief vom Roten Kreuz und dem, was danach geschah, aber es sind diese Sätze, die geblieben sind: der Versuch einer Antwort, wenn es so etwas überhaupt gibt. Damals ahnte ich noch nicht, dass sie über dem Rest meines Lebens stehen würden; ich klammerte mich lediglich an die Hoffnung, dass Amanda, die mir diese Antwort gab, eine Ahnung hatte, denn eine Mutter sollte ihr Kind ebenso wenig überleben müssen, wie eine Freundin anstelle der anderen.
Ich hatte den Verdacht, dass es mir nicht im Geringsten helfen würde, dass ich für meine Rettung nichts konnte. Der einzige Trost würde – irgendwann, vielleicht – sein, dass Bekka und ich für kurze Zeit noch einmal Freundinnen hatten sein dürfen.
Wie schnell alles aus dem Kopf verschwinden kann, dachte ich verblüfft. Meine quälenden Fragen über Mamu, meine Enttäuschung über Amanda, meine Zweifel über Walter waren nicht mehr als eine schwache Erinnerung, irgendwo verstaut, und sie zurückzurufen, kostete zu viel Kraft. Die Zeit zerrann ins Nichts, Sonnenstreifen bewegten sich von einer Zimmerecke zur anderen, der Baum im Vorgarten klopfte im Dunkeln leise ans Fenster, wie jede Nacht, wir hätten im Frühjahr den Ast beschneiden müssen. Dann wurde alles matt und grau, Bettpfosten, Schrank, Tisch, als ob es ganz früh am Morgen noch keine Farben gäbe und jeder Tag sich neu erschaffen müsse.
Wenn das so ist, dann muss es auch für mich gelten …
Dies war gewiss keine neue Theorie. Ich wusste, dass Matthews Morgenrituale mit just dieser Annahme zu tun hatten, und selbst die Vögel, die beim ersten Licht des Tages zu singen begannen, taten dies, um nichts anderes zu verkünden, als dass sie da waren.
Aber an diesem Morgen spürte ich es zum ersten Mal, und ich erschrak. Wie konnte man eine derart traurige Nachricht wie die von Bekka bekommen – und sich dem Leben so nahe fühlen?
Einen Augenblick versuchte ich die alte Antwort: Mit mir stimmt eben etwas nicht. Aber ich merkte gleich, dass es nicht mehr funktionierte, und ich wunderte mich, dass ich es je für eine Antwort gehalten hatte.
Durch das Fenster huschte der zweite Morgen zu mir ins Zimmer und etwas nahm Gestalt an, ordnete sich. Vielleicht kann man die Kehrseite der Dinge ja nur am ganz frühen Morgen sehen, in diesem anderen, noch neuen Licht.
Ich hatte zwei Familien – so einfach war das. Während viele Jugendliche des Kindertransports in diesen Tagen erfuhren, dass ihre Familien ausgelöscht worden waren, besaß ich zwei Mütter, einen Vater, einen Onkel, einen Vielleicht-zukünftigen-Ehemann und eine gute Freundin. Konnte man es besser treffen?
Aber Bekka, auch Bekka, kam nicht zurück. Nie würde ich darüber hinwegkommen. Nie würde ich aufgeben, mich zu fragen, ob es nicht besser mich getroffen hätte. Nie würde ich mir einreden können, dass es Bekka ein Trost gewesen wäre, mir das Leben gerettet zu haben. Nie würde ich aufhören, wiedergutmachen zu wollen, dass ich am Leben war.
Doch immer wollte ich versuchen, mich daran zu erinnern, dass ich zumindest an diesem Morgen auch noch etwas anderes hatte sehen können. Ich hatte Bekka verloren und Gary ebenso – dennoch hatten sie mir etwas hinterlassen. Wenn es mir gelang, sie in mir nicht sterben zu lassen, etwas von Bekkas Mut und Garys Freude zu bewahren … dann war ihr Leben nicht
Weitere Kostenlose Bücher