Die Luft, die du atmest
PROLOG
Auf der Heimfahrt von der Beerdigung war es still. Zu still. Ann wünschte, Peter würde etwas sagen, aber im Auto waren nur das leise Prasseln der Regentropfen und das Hin und Her der Wischer auf der Windschutzscheibe zu hören. Selbst das Radio war, nachdem sich der Empfang über etliche Meilen knisternd verabschiedet hatte, verstummt.
Als sie Ohio erreichten, drehte sich Ann nach hinten zu Maddie um, die sonst jede Staatsgrenze ansagte, und sah, dass ihre Siebenjährige eingeschlafen war. Ihr Mund war leicht geöffnet, der Kopf nach hinten gesunken, und das Buch, in dem sie gelesen hatte, war ihr halb aus der Hand gerutscht. Während der ersten Stunde der Fahrt hatte Maddie alle fünf Minuten gefragt
: Mom, was heißt das
?, und die unbekannten Wörter laut buchstabiert. Vorsichtig nahm Ann das Buch, klappte es zu und legte es neben ihrer Tochter auf den Sitz. In der anderen Ecke saß Kate, das Gesicht hinter einer zerzausten braunen Haarsträhne verborgen, zusammengesunken über ihrem iPod.
Ann drehte sich wieder nach vorne. «Die Mädchen schlafen.»
Peter nickte.
«Kate auch. Keine Ahnung, wie sie bei der Musik schlafen kann.»
Er gab keine Antwort.
«Weißt du, dass ich sie dabei erwischt habe, wie sie ihren iPod heimlich mit in die Kirche nehmen wollte? Ich glaube, es war keine gute Idee, ihr den zu schenken.» Als Peter schwieg, redete sie weiter: «Der macht es ihr bloß noch leichter, sich abzukapseln.»
Er zuckte die Achseln. «Sie ist zwölf. Das ist typisch für ihr Alter.»
«Ich glaube, es ist mehr als das, Peter.»
Er sagte nichts, schaute bloß in den Rückspiegel, betätigte den Blinker, scherte aus und überholte das langsamere Fahrzeug vor ihnen.
Es war ein alter Streit, und er ging gar nicht erst darauf ein. Aber er schwieg nicht nur deswegen. Sie sah es an der Art, wie er sich auf die Straße konzentrierte, las es in seinem angespannten Gesicht. «Ist was mit dir?» Natürlich war was mit ihm.
«Bin bloß müde. War ein langes Wochenende.»
Ein langes, schreckliches Wochenende. All diese Verwandten in dem kleinen Holzhaus ohne Klimaanlage. Und dazwischen Peters Mutter, die von Zimmer zu Zimmer lief und mit kläglicher Stimme unermüdlich nach Peters Vater Jerry fragte.
«Wie gut, dass dein Bruder am Ende doch noch gekommen ist.»
«Yep.»
Nicht Ja oder Mm-hm, sondern Yep. Das sagte er sonst nie. Noch ein Signal, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte. Aber nach vierzehn Jahren Ehe verfehlte es seine Wirkung. «Ist zwischen euch beiden alles klar?»
«Yep.»
Offenbar wollte er ihr nichts erzählen. «Bonni sagt, sie hat dich und Mike streiten sehen.»
Er warf ihr einen Blick zu. Wie gut er aussah, immer noch. Mit dem braungebrannten, offenen Gesicht und den schönenblaugrünen Augen, die Kate von ihm geerbt hatte. Aber heute wirkte er erschöpft und älter als seine vierzig Jahre. Er konzentrierte sich wieder auf die Straße. Sie hätte gern seine Wange berührt, wenn er nur nicht diese Abwehrsignale ausgesandt hätte.
Sie verschränkte die Arme. «Mike glaubt nicht, dass es ein Unfall war.»
«Mike weiß nicht, wovon er redet.»
«Aber an dem, was er sagt, ist was dran. Es ist wirklich komisch, dass dein Vater keine Schutzweste trug.»
«Was willst du damit andeuten, Ann? Jägerselbstmord? Ich bitte dich.»
Sie hätte es dabei belassen sollen, aber sie schaffte es nicht. Es hatten sich zu viele Fragen aufgestaut. Drei Tage das Geflüster der fremden Leute, drei Tage Peters Mutter, die Ann ständig am Ärmel zupfte. «Und dass es mit deiner Mutter so schlimm geworden ist – ich hatte ja keine Ahnung, Peter. Heute Morgen hat sie gemeint, ihre Eltern würden sie suchen und deshalb müsse sie mal lieber nach Hause gehen. Du hättest Maddies Gesicht sehen sollen. Sie war ganz erschrocken.» Ann schüttelte den Kopf. «Es bricht mir das Herz. Wir können sie doch nicht alleine lassen.»
«Bonni wird nach ihr sehen.»
«Das reicht nicht. Sie braucht rund um die Uhr Betreuung.»
Es hatte aufgehört zu regnen. Die Sonne schimmerte blass durch die Wolken. Peter stellte die Scheibenwischer aus. «Ich will nicht drüber reden. Und schon gar nicht vor den Mädchen.»
«Vor den Mädchen, die tief und fest schlafen?»
«Ann.»
Vielleicht bedrängte sie ihn wirklich zu sehr. Sie lehnte denKopf ans Fenster und beobachtete einen Habicht, der hoch oben am Himmel kreiste. «Musst du morgen wirklich raus? Vielleicht kannst du ja einen Studenten hinschicken.»
«Leider nicht. Die
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