Lloyd, Sienna
System arbeitet. Ich mache mich daran, meine Notizen zu ordnen. Ich habe am Computer der Bibliothek gearbeitet und viel handschriftlich erfasst, wenn ich möchte, dass mein Werk nach etwas aussieht, muss ich also diese unglaubliche Menge an Informationen sortieren und zusammenfassen. Um mir einen Überblick zu verschaffen, gehe ich alles objektiv an. Ich bin in der komplizierten Zeit der Krise des Blutes und versuche, meine Erzählung chronologisch und kohärent zu gestalten. Wer ist sterblich, wer ist ein Vampir? Wie war dies vor, wie nach der Krise des Blutes? Ich beginne auch bereits damit, mir eine eigene Meinung zu bilden, zum Beispiel finde ich die Trennung der beiden Gruppen unnötig. Sie unterstreicht unsere Unterschiede nur noch zusätzlich, und solange es eine Grenzlinie gibt, werden wir einander niemals besser kennenlernen. Der Nachmittag vergeht wie im Flug, und eine beängstigende schwarze Wolke schiebt sich über mich: das Abendessen.
Um 20 Uhr komme ich ins Esszimmer und sehe Sol, Magda und Charles. Wir haben auch einen Gast, Jacques, Élisas Mann, den ich schon bei der Einweihung des roten Salons kennengelernt habe. Ich grüße alle Anwesenden, Solveig murmelt mir ein kaltes
„'n Abend“
zu. Charles sieht sie fragend an, Magda, der die unangenehme Situation bewusst ist, beginnt ein Gespräch.
„Heute gibt es ein ganz einfaches Essen. Rebecca und Gabriel werden sich uns heute offenbar nicht anschließen.“
„Was ist denn los?“, fragt Jacques, der über ihre Abwesenheit überrascht ist. Er war gekommen, um seinen Geschäftspartner zu besuchen.
Solveig lacht, sieht mir direkt in die Augen und erklärt: „Ich habe die beiden auf eine Nacht in der Fürstensuite des
Dynastie
eingeladen, ich musste meinen ganzen Charme und meine Beziehungen einsetzen, um sie buchen zu können. Héloïse hat mich auf diese Idee gebracht, als sie uns gestern all diese wunderbaren Geschenke gemacht hat. Rebecca war außer sich vor Freude, wir haben den ganzen Nachmittag damit verbracht, ein perfektes Outfit für eine laaange Nacht zu finden! Als sie wegfuhren, sahen sie sehr verliebt aus.“
„Oh, also haben sich die Wogen geglättet?“, fragt Jacques, sichtlich froh über diese Neuigkeit.
„Es gibt noch einige Hindernisse, die sie gemeinsam überwinden müssen“, antwortet Sol. „Aber nichts von alledem wird die Zeit, die sie miteinander verbracht haben, zunichtemachen. Magda, hast du gesehen, wie sie einander heute Morgen geküsst haben? Richtige Turteltäubchen!“
„Ja, ja, Sol. Nun gut, es ist nicht höflich, über intime Geschichten anderer zu sprechen. Charles, schenke Jacques bitte Wein ein und erzähl uns von deinen neuesten Errungenschaften.“
Der Abend geht weiter und Sols giftige Attacke auf mich liegt mir im Magen. Ich zwinge mich, trotzdem etwas zu essen. Charles, den meine Schweigsamkeit offenbar verwundert, versucht, mich in ein Gespräch zu verwickeln.
„Sag mal, Fräulein, du hast mir gar nicht gesagt, wie weit du bei deiner Recherche bist …“
Da wird Charles durch Schritte auf dem Flur unterbrochen. Rebecca legt einen beeindruckenden theatralischen Auftritt hin, sie ist so schön wie nie zuvor.
„Oh, Jacques, du bist hier, das ist aber eine nette Überraschung!“
Sie hat ihr feuerrotes Haar am Oberkopf in einem lockeren Knoten hochgesteckt und trägt einen Pelzmantel, dessen Farbe exakt zu ihren Haaren passt. Ihre Augen sind kohlschwarz geschminkt und strahlen so noch mehr. Ich beneide sie um ihren Charme, ihr edles Parfum, ihre makellose Kleidung.
„Sieh mal, Sol, ich habe meinen Fuchs ausgeführt.“ Sie streicht über den kupferfarbenen Mantel.
„Du siehst klasse aus. Aber … was tust du eigentlich hier?“
„Hör mal, Süße, die Einladung war wirklich su-per-nett von dir, aber ich habe mit dem Ball noch einige Arbeit. Und Gabriel hat auch zu tun, du kennst uns ja, wir können einfach nicht ruhig sitzen bleiben. Er hat mir vorgeschlagen zurückzufahren und ich konnte nicht Nein sagen.“
Gabriel kommt herein. Er trägt eine anthrazitgraue Chinohose, einen Rollkragenpulli, der seinen kantigen Kiefer betont, und einen grauen Wollschal, der unheimlich weich aussieht. Er sieht umwerfend aus, seine Wangen sind von der Kälte leicht gerötet. Ich habe ihn seit gestern nicht mehr gesehen, doch sein Blick schweift über den Tisch, ohne an mir hängen zu bleiben.
„Guten Abend, meine Lieben! Jacques? Ich dachte, du kommst erst morgen vorbei?“
„Ich soll auf ein
Weitere Kostenlose Bücher