Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Ehrenamt
Auch wenn der Lärm dieser Welt das Denken sabotieren mag – über einiges muss immer wieder von neuem nachgedacht werden, zum Beispiel über die Frage, was man macht, wenn man nicht denkt. Man arbeitet. Man ist tätig. Man handelt. Oder man erholt sich. Die Moderne war auch die Epoche, die unserer Zeit scharfe Grenzen gezogen hat, zum Beispiel zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Und Arbeit war und ist für die meisten Menschen in industriellen und postindustriellen Gesellschaften bestimmt als Lohnarbeit. Aber natürlich arbeitet man nicht nur dann, wenn man seinem Verdienst nachgeht. Zunehmend richtet sich – nicht zuletzt auch im Zeichen der Krise – das öffentliche Interesse auf eine Form der Tätigkeit, die etwas altertümlich als Ehrenamt, etwas zeitgemäßer als Freiwilligentätigkeit bezeichnet wird. Eine Unzahl von sozialen, kulturellen, pädagogischen und sportlichen Aktivitäten würde ohne ein solches freiwilliges, ehrenamtliches Engagement nicht möglich sein. Es wundert so wenig, dass die Europäische Union, die sich um alle materiellen und immateriellen Grenzfragen kümmert, das Jahr 2011 zum »Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit zur Förderung der aktiven Bürgerschaft« erklärt hatte. In dem diesem Projekt zugrundeliegenden Bericht des Europäischen Parlamentes wird der Begriff der Freiwilligentätigkeit wie folgt definiert: »1. Eine Freiwilligentätigkeit wird unentgeltlich verrichtet, d.h. sie ist unbezahlt. 2. Sie wird aus eigenem, freiem Willen verrichtet. 3. Ein außerhalb des Familien- oder Freundeskreises stehender Dritter profitiert von ihr. 4. Sie steht allen Menschen offen.«
Diese Bestimmungen, die sich an die üblichen Definitionen von Freiwilligentätigkeit anschließen, grenzen die Aktivitäten klar von bezahlter Erwerbsarbeit, gesetzlich vorgegebenen Verpflichtungen und rein privat- und familienbezogenen Tätigkeiten ab. Was sich die EU in erster Linie von einer Förderung dieser Freiwilligentätigkeit erwartet, ergibt sich allerdings deutlich aus den Eckpunkten des parlamentarischen Berichts. Darin heißt es: »Freiwilligentätigkeiten unterstützen die Ziele der Agenda von Lissabon durch 1. Förderung der Beschäftigungsfähigkeit. Freiwilligentätigkeit spielt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Kenntnisse zu erwerben und die Beschäftigungsfähigkeit des Freiwilligen zu verbessern. Sie ist darüber hinaus ein Mittel lebenslangen Lernens. Menschen, die Freiwilligentätigkeiten verrichten, erwerben eine Reihe von Kenntnissen und Fähigkeiten, die sowohl zu den fachlichen Qualifikationen (Organisations- und Zeitmanagementfähigkeit, Beurteilungs- und Berichtsfähigkeit, Planungs- und Budgetierungsfähigkeit usw.) als auch zu den Schlüsselqualifikationen (Kommunikations-, Fürsorge-, Verhandlungsfähigkeit; Fähigkeit, aufmerksam zuzuhören usw.) gehören. […] 2. Förderung der sozialen Integration. Als informelle und nicht formale Lernerfahrung bieten Freiwilligentätigkeiten den vom formalen Bildungssystem ausgeschlossenen Menschen sowie den Langzeitarbeitslosen echte Chancen. Nach den zur Verfügung stehenden Forschungsdaten sind Menschen, die bereits einmal Freiwilligentätigkeiten verrichtet haben, weniger oft arbeitslos.« 105
Die Stoßrichtung ist eindeutig: Freiwilligentätigkeit wird aus der Perspektive lohnarbeitsorientierter Beschäftigung gesehen, bereitet auf diese vor, vergrößert deren Möglichkeiten, erhöht Chancen und kompensiert Defizite des Arbeitsmarktes. Das ist nicht zu bestreiten und ein wesentliches Moment der Freiwilligentätigkeit. Diese allerdings vorrangig oder gar ausschließlich unter diesen Gesichtspunkten zu sehen, ist eine Verkürzung, die sich um die Chance bringt, die gesellschaftspolitische Bedeutung der Freiwilligentätigkeit gerade im Kontext der europäischen Tradition des Nachdenkens über das Verhältnis von Arbeit und Freiheit neu zu bestimmen.
Dass die EU sich am Begriff der Beschäftigungsfähigkeit als Voraussetzung für Erwerbsarbeit orientiert, ist kein Zufall. Es ist dieser Begriff von Arbeit, den es im strengen Sinn erst seit dem späten 18. Jahrhundert gibt, an dem wir nahezu alle unsere Aktivitäten und Tätigkeiten ausrichten, der uns zum Maßstab für wirtschaftliche Prosperität ebenso geworden ist wie für kollektive und individuelle Glückserwartungen. Dies führt zu einer paradoxen Erfahrung der Gegenwart, die sich zu zwei einander widersprechenden Thesen verdichten lässt: Die erste
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