Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
Vom Netzwerk:
und es für geradezu selbstverständlich hält, dass auch geistige Tätigkeiten von Musik, Geräuschen, Gesprächen und dem Knattern von Motoren begleitet werden. Wer sich durch diese akustische Reizüberflutung gestört fühlt, leidet an dem, was anderen entweder Freude macht oder eben notwendig ist. Wer sich von Lärm stören lässt, ist eigentlich selbst schuld daran. Dazu passt auch, dass es Lärmformen gibt, die aus – sagen wir einmal: pädagogischen Gründen – grundsätzlich nicht mehr als störend empfunden werden dürfen. Das Lärmen von Kindern, das wahrlich penetrant sein kann, darf jemanden, der sich konzentrieren will, nicht mehr stören, und die moderne Pädagogik, die es den Lehrern nicht mehr erlaubt, sich Ruhe zu verschaffen, definiert den Lärm in den Klassenzimmern, der jedes geistige Arbeiten unmöglich macht, als positiven Arbeitslärm und wundert sich, wenn die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne von Jugendlichen auf wenige Minuten gesunken ist. Diese Pädagogik hält es offenbar mit Søren Kierkegaard, ohne allerdings die Konsequenzen zu bedenken, die dieser für das Arbeiten bei solchen Lärmverhältnissen schon mitgedacht hatte. Der scharfsinnige Däne hatte es in der Tat verstanden, diese Sache auch von einer anderen Seite zu sehen. Natürlich gibt es »nervenschwache Menschen«, die durch das allerleiseste Geräusch gestört werden und nicht zu denken vermögen, wenn jemand – und wäre es noch so leise – durch das Zimmer geht. Allerdings gibt es auch noch eine andere Art von Nervenschwäche, Menschen, die so schwach sind, dass »sie tüchtigen Lärm und eine zerstreuende Umgebung nötig haben, um arbeiten zu können […] Wenn sie allein sind, entschwinden ihre Gedanken ins Unbestimmte, wenn dagegen Lärm und Krach um sie ist, dann zwingt dieser sie, ihm einen Willen entgegenzusetzen.« 103 Hier findet der Gedanke erst zu sich, indem er sich gegen seine akustisch aufdringliche Umgebung durchsetzen muss. Aber auch dort, wo angeblich Lärm als positiv empfunden wird, handelt es sich um – eine Nervenschwäche.
    Prinzipiell können in einer modernen Gesellschaft zwei Arten von störendem, mit Dominanzanspruch ausgestattetem Lärm unterschieden werden: Lärm, der von Menschen erzeugt, und Lärm, der von Maschinen erzeugt wird. In einer technisierten Welt scheint der menschenerzeugte Lärm nicht besonders gravierend, auch wenn dieser – durchaus im Sinne Schopenhauers – mitunter ziemlich nerven kann. Generell entspricht dieser Lärm einem Mangel an Rücksichtnahme und signalisiert natürlich einen Herrschaftsanspruch: Hier rede ich, und mir müssen auch diejenigen zuhören, die gar nicht gemeint sind. Jeder, der in einem Restaurant vom überlauten Gelächter des Nachbartisches überschüttet und in seinem eigenen Kommunikationsbedürfnis sabotiert wird, kennt dieses Problem. Im Hintergrund dieser Lärmerfahrung steht natürlich die laute, erhobene, die brüllende, die sich überschlagende Stimme, die Stimme des Befehls, die sich als einzelne über viele, oder als Gegröle der Vielen über Einzelne erhebt. Der brüllende Offizier ist so nur die Kehrseite der brüllenden Hooligans, die einen U-Bahnwaggon akustisch terrorisieren.
    Wie sehr mit solchen akustischen Anschlägen Herrschaftsansprüche nicht nur verbunden, sondern selbst wiederum nach politisch-moralischen Gesichtspunkten bewertet und damit hingenommen werden müssen, zeigt sich, wenn man unterschiedliche Lärmquellen miteinander vergleicht. Wer sich von einer Multikulti-Feier in der Nachbarschaft gestört fühlt, sollte, will er nicht als reaktionärer Spießer gelten, vielleicht doch eher nicht zur Polizei gehen; sollten in der Nachbarschaft aber rechte Recken in derselben Lautstärke ihre Lieder grölen, ist das Einschreiten gegen diesen Lärm natürlich ein Gebot der Stunde.
    Gegen von Menschen erzeugten Lärm kann man vielleicht noch vorgehen, gegen den Lärm, den unsere Maschinen erzeugen, nicht mehr. Wenn die These des Philosophen Günther Anders stimmt, dass die Technik zum neuen Subjekt der Geschichte geworden ist, und sich die Imperative unseres Handelns an die Maximen unserer Maschinen und Geräte anpassen müssen, dann heißt das auch, dass der Lärm dieser Maschinen immer Vorrang haben wird: »Sofern wir heute einen Benehmenskodex haben, ist dieser von Dingen diktiert.« 104 Begründungspflichtig ist nicht die Inbetriebnahme einer lauten Maschine, zum Beispiel eines Flugzeuges, begründungspflichtig ist der

Weitere Kostenlose Bücher