Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
gehört – man denke an das Hintergrundrauschen stark befahrener Straßen –, mag die Gedanken beschweren »wie ein Block am Fuße«, dramatisch aber werden jene Geräusche, die plötzlich den Fluss der Gedanken unterbrechen. Schopenhauer wusste, wovon er sprach, denn der »unverantwortlichste und schändlichste Lärm« rührte vom »wahrhaft infernalischen Peitschenklatschen«, das zu seiner Zeit die Gassen Frankfurts durchhallt haben muss: »Dieser plötzliche, scharfe, hirnlähmende, alle Besinnung zerschneidende und gedankenmörderische Knall muß von Jedem, der nur irgend etwas, einem Gedanken Ähnliches im Kopfe herumträgt, schmerzlich empfunden werden: jeder solcher Knall muß daher Hunderte in ihrer geistigen Tätigkeit, so niedriger Gattung sie auch immer sein mag, stören: dem Denker aber fährt er durch seine Meditationen so schmerzlich und verderblich, wie das Richtschwert zwischen Kopf und Rumpf.« 101
Schopenhauer, immerhin Begründer einer mitleidbasierten Tierethik, vergisst auch nicht darauf hinzuweisen, dass dieses laute Knallen mit der Peitsche, gedacht, um die Kutschpferde anzutreiben, aus sachlichen Gründen nicht nur unnötig, sondern auch unnütz ist, da sich die Fiakergäule auch mit wesentlich leiseren Mitteln steuern lassen. Ganz im Gegenteil, durch das laute Knallen, diesen unablässigen Missbrauch der Peitsche, würden die Pferde abgestumpft und müde. Nein, es geht hier um ein Phänomen, das auch nach Ende der Pferdekutsche das Geräuschpanorama nicht nur in Städten durchzieht: die Lust am Lärm. Schopenhauer verleiht seiner Kritik an den fröhlichen Peitschenknallern allerdings noch eine provokante sozialkritische Note: »Die Sache stellt demnach sich eben dar als reiner Mutwille, ja als ein frecher Hohn des mit den Armen arbeitenden Teiles der Gesellschaft gegen den mit dem Kopfe arbeitenden. Daß eine solche Infamie in Städten geduldet wird ist eine grobe Barbarei und eine Ungerechtigkeit.« Und Schopenhauer machte kein Hehl daraus, worauf er eigentlich hinauswollte: »Es kann nicht schaden, daß man die Proletarier auf die Kopfarbeit der über ihnen stehenden Klassen aufmerksam mache: denn sie haben vor aller Kopfarbeit eine unbändige Angst.« Und abgesehen davon, dass der misanthropische Philosoph empfahl, die Peitschenknaller mit dem Stock zu züchtigen, galt seine Klage dem Befund, dass unter dem Lärm in erster Linie der Geist zu leiden hat: »Soll denn, bei der so allgemeinen Zärtlichkeit für den Leib und alle seine Befriedigungen, der denkende Geist das Einzige sein, was nie die geringste Berücksichtigung, noch Schutz, geschweige Respekt erfährt?«
Abgesehen von der kulturhistorischen Einsicht, dass es in Städten auch vor Erfindung moderner Verkehrstechnologien laut zugegangen ist, thematisiert diese Erregung einen Zusammenhang, der aktuell auch dann selten beachtet wird, wenn gegen den Lärm angekämpft wird: Es geht um das Verhältnis von Lärm und Denken, darum, dass der Lärm in erster Linie eine Störung und Beeinträchtigung jener Konzentration bedeutet, die für das Denken unerlässlich ist. »Ich möchte wissen«, so Schopenhauer am Ende seines kurzen Traktates gegen den Lärm, »wie viele große und schöne Gedanken diese Peitschen schon aus der Welt geknallt haben.«
Für Schopenhauer lag deshalb die eigentliche Infamie des Lärms nicht auf einer psychischen, sondern auf einer sozialen Ebene: Lärm ist der Versuch der körperlich arbeitenden Klassen, das Leben der Kopfarbeiter zu erschweren. Der Lärm ist aus dieser Perspektive ein Herrschaftsanspruch von unten, und er ist es bis heute geblieben. Das macht den Kampf gegen den Lärm nicht einfacher, denn wer Ruhe und Stille sucht, kommt auch heute rasch in den Geruch eines elitären Anspruches, der sich zu gut ist, um die aufheulenden Mopeds Pubertierender, die grölenden Partys Adoleszendierender oder den Verkehrslärm der Werktätigen zu tolerieren. Friedrich Nietzsche, in jungen Jahren stark von Schopenhauer beeinflusst, brachte die Sache dann auf den Punkt: »Lärm mordet Gedanken.« Und Nietzsche wusste auch, wo das Verhängnis beginnt: »Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt; und wo der Markt beginnt, da beginnt auch der Lärm der großen Schauspieler und das Geschwirr der giftigen Fliegen.« 102
Der Lärm stört das Denken – man könnte es auch umdrehen: Was beim Denken stört, und wäre es noch so marginal, ist Lärm. Das mutet seltsam an in einer Zeit, die vom Multitasking schwärmt
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