Lob der Stiefmutter
»Maria ist so unauffällig, daß sie unsichtbar zu sein scheint«, neckt mich meine Nachbarin Rachel. Ich höre das gern von ihr. Es stimmt: unbemerkt bleiben heißt für mich glücklich sein.
Das bedeutet jedoch nicht, daß es mir an Träumen und Gefühlen gebricht. Nur hat mich das Außergewöhnliche niemals angezogen. Meine Freundinnen versetzen mich in Erstaunen, wenn ich sie höre: sie möchten reisen, viele Sklaven besitzen, sich mit einem König vermählen. Mich schüchtern diese Phantasien ein. Was täte ich in fremden Ländern, unter fremden Menschen, mit fremden Sprachen? Und was wäre ich für eine klägliche Königin, wo mir schon die Stimme versagt und die Hände zittern, wenn irgendein Unbekannter mir zuhört? Was ich vom Leben erbitte, ist ein ehrbarer Ehemann, gesunde Kinder und ein ruhiges Leben ohne Hunger und ohne Angst. Was wollte der Jüngling sagen mit »außergewöhnlicher, übernatürlicher Bestimmung«? Meine Schüchternheit hinderte mich, ihm gebührend zu antworten: »Ich bin nicht darauf vorbereitet, ich bin nicht die, von der Ihr sprecht. Geht lieber zu der schönen Deborah oder zu der tatkräftigen Judith oder in das Haus Rachels,der Klugen. Wie könnt Ihr mir verkündigen, ich werde die Königin der Menschen sein? Wie könnt Ihr sagen, man werde in allen Sprachen zu mir beten und mein Name werde die Jahrhunderte durchziehen wie die Gestirne den Himmel? Ihr habt Euch im Mädchen und im Haus geirrt, Herr. Ich bin allzu gering für diese großen Dinge. Ich existiere fast nicht.«
Bevor der Jüngling sich entfernte, neigte er sich und küßte den Saum meiner Tunika. Eine Sekunde lang sah ich seinen Rücken: dort spannte sich ein Regenbogen, als hätten sich die Flügel eines Schmetterlings auf ihm niedergelassen.
Jetzt ist er fort, und ich bin mit einem Kopf voller Zweifel zurückgeblieben. Warum sprach er mich als Frau an, da ich doch noch ledig bin? Warum nannte er mich Königin? Warum sah ich Tränen in seinen Augen schimmern, als er mir prophezeite, daß ich leiden würde? Warum nannte er mich Mutter, da ich Jungfrau bin? Was geschieht? Was wird aus mir nach diesem Besuch?
Epilog
»Hast du denn nie Gewissensbisse, Fonchito?« fragte Justiniana plötzlich. Sie sammelte die Kleidungsstücke ein, die das Kind achtlos auszog und ihr dann mit Basket-Ball-Pässen zuwarf, und legte sie gefaltet über einen Stuhl.
»Gewissensbisse?« sagte die kristallklare Stimme erstaunt. »Weswegen?«
Sie hatte sich gebückt, um ein Paar mit grünen und granatroten Rhomben gemusterte Strümpfe aufzuheben, und beobachtete ihn im Spiegel der Kommode: Alfonso hatte sich auf den Bettrand gesetzt und zog sich die Hose des Schlafanzugs an, wobei er die Beine anwinkelte und dann streckte. Justiniana sah seine weißen, schmalen Füße mit den rosigen Fersen, sah, wie die zehn Zehen sich bewegten, als machten sie Gymnastikübungen. Schließlich traf ihr Blick den des Kindes, das ihr sogleich zulächelte.
»Mach bloß nicht so ein scheinheiliges Gesicht, Foncho«, sagte sie und richtete sich auf. Sie rieb sich die Hüften und seufzte, während sie das Kind unschlüssig anschaute. Sie fühlte, daß die Wut sie wieder überwältigen würde. »Ich bin nicht sie. Mich wirst du nicht bestechen oder täuschen mit dieser Unschuldsmiene. Sag mir endlich die Wahrheit. Hast du keine Gewissensbisse? Nicht einen einzigen?«
Alfonso brach in lautes Lachen aus und ließ sich mit ausgebreiteten Armen rückwärts auf das Bett fallen. Er dribbelte mit hocherhobenen Beinen um einen imaginären Ball herum. Sein Lachen war heftig und überzeugend, Justiniana entdeckte nicht den leisesten Anflug von Spott oder Bosheit darin. ›Scheibenkleister‹ dachte sie, ›wer wird aus dieser Rotznase schlau.‹
»Ich schwör dir bei Gott, daß ich nicht weiß, wovon du redest«, rief das Kind aus, während es sich aufsetzte. Es küßte mit Inbrunst seine gekreuzten Finger. »Oder willst du mir ein Rätsel aufgeben, Justita?«
»Leg dich jetzt endlich ins Bett, du kannst dich erkälten. Und ich hab keine Lust, dich zu pflegen.«
Alfonso gehorchte ihr sofort. Er tat einen Satz, hob die Laken, ließ sich flink hineingleiten und rückte sich das Kopfkissen unter dem Rücken zurecht. Dann schaute er das Mädchen schmeichelnd und verwöhnt an, als würde er gleich einen Preis bekommen. Die Haare bedeckten seine Stirn, und seine großen blauen Augen leuchteten im Halbdunkel, da das Licht der Nachttischlampe nur seine Wangen erhellte. Sein
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