Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?
immer da!“
Farbiges Glas
1953
Bei uns in Kattenbach sind alle Leute neugierig. Alteingesessene Familien gibt es relativ wenig. Irgendwann ist immer jemand zugezogen, weil es in der Kunstlederfabrik Arbeit gibt, das war schon so, als „Hinten“ noch eine Pulverfabrik war.
Wenn also eine neue Familie nach Kattenbach zieht, wird erst mal alles über sie in Erfahrung gebracht. Die Kinder werden über ihre neuen Schulkameraden ausgefragt. Der Lehrer verwickelt die Eltern in lange Gespräche, und die Nachbarn leihen sich Zucker oder Salz bei den neuen Mitbürgern.
Wenn dann der ganze Ort über die „Neuen“ Bescheid weiß, werden diese aber auch in die Gemeinde aufgenommen. Das gilt aber nicht ganz so für Heimatvertriebene. Diese Leute wollen auch nicht in Kattenbach zuhause sein, sondern wieder zurück in ihre richtige Heimat.
In den Nachbarorten ist das nicht so. Da wohnen lauter Leute, die sich schon seit Jahrhunderten kennen. Deshalb bleiben Menschen, auch wenn sie schon fünfzig Jahre in Auenheim wohnen, immer Fremde. Sogar diejenigen, die dort geboren und in die Schule gegangen sind, bleiben Außenseiter, wenn ihre Eltern mal „Zugezogene“ waren.
Da gefällt es mir bei uns schon besser, obwohl die Leute so neugierig sind! Wenn es nämlich darauf ankommt, halten die Kattenbacher zusammen und helfen sich gegenseitig. Herr Mühlbauer zum Beispiel schlachtet unsere Tiere, weil mein Vater das nicht kann. Dafür lügt mein Vater aber auch schon mal für Herrn Mühlbauer. Der ist nämlich krankgeschrieben gewesen und hat einen Kontrollbesuch bekommen. Das war ein Mann, der für die Kunstlederfabrik spioniert. Er klingelte kurz nach Sieben abends bei unseren Nachbarn. Aber niemand war da. Es konnte ja auch keiner da sein, weil Mühlbauers im Kino waren.
Das aber durfte Herr Mühlbauer nicht, weil er krankgeschrieben war. Jetzt wurde die Sache aber brenzlig, die Kunstlederfabrik wollte ihn entlassen. Damit war seine Existenz gefährdet, weil Herr Mühlbauer nicht mehr der Jüngste ist und keine Arbeit mehr bekommen hätte. Da hat er meinen Vater beschworen, in der Firma zu sagen, er wäre zuhause gewesen. Aber er hätte die Klingel nicht gehört, weil er geschlafen habe. Seine Frau sei bei einer Nachbarin gewesen. Mein Vater hat das dann auch „Hinten“ so gesagt. Außerdem fügte er hinzu, er hätte kurz vor Sieben noch nach Herrn Mühlbauer gesehen und wäre gleich wieder gegangen, da dieser so müde war. Sie haben meinem Vater geglaubt, oder zumindest so getan, denn unser Nachbar wurde nicht entlassen. Erstaunlicherweise hat Frau Mühlbauer diese Geschichte nicht überall herumerzählt. Das muss ihr sehr schwer gefallen sein. Frau Mohr nennt sie heimlich die Kattenbacher Bildzeitung. Weil sie alles, was bei uns passiert, weiß und entsprechend übertreibt. Ich lebe gerne in Kattenbach. Hier weiß man wenigstens, wo man dran ist, eben weil man die Leute kennt. Außerdem ist es bei uns eigentlich nie langweilig, weil immer irgendwas passiert. Trotzdem möchte ich später mal wegziehen, weil ich mir ein Haus am See zum Wohnen wünsche. Es soll an einen Berg gelehnt stehen und rechts und links davon sollen Birken wachsen, weil das meine Lieblingsbäume sind. Zum See hin möchte ich einen bunten Garten haben. Aber in Kattenbach gibt’s keinen Berg, und unser Exer ist zu klein und außerdem von amerikanischen Wohnblocks umstellt. Allerdings muss ich einen reichen Mann heiraten, sonst kann ich mir kein Haus am See leisten und auch keine Birken. Aber leider gibt’s in Kattenbach keine reichen Leute. Deshalb werde ich später wohl von hier wegziehen.
Vielleicht muss ich dazu aber auch keinen reichen Mann heiraten. Es kann ja sein, dass ich einen Schatz finde. Dann könnte ich nämlich auch Paul heiraten, den kenne ich wenigstens gut.
Zwischen unseren beiden Hauseingängen, hinter der Waschküche liegen viele Scherben im Boden. Die buddle ich immer aus, wenn ich so eine blinken sehe. Bis jetzt war es immer nur farbiges Glas.
Aber, wer weiß, vielleicht ist es ja eines Tages auch ein großer
Weitere Kostenlose Bücher